Pierre Boulez Saal Berlin - Die 24 Präludien und Fugen von Dmitrij Schostakowitsch
Die 24 Präludien und Fugen von Dmitrij Schostakowitsch gehören zu den anspruchsvollsten Klavierwerken überhaupt. Entstanden sind sie durch Schostakowitschs intensive Beschäftigung mit Johann Sebastian Bachs "Wohltemperiertem Clavier". Zu seinem 50. Todestag hat die Pianistin Yulianna Avdeeva das Mammutwerk zur Aufführung gebracht.
Als 1950 zum 200. Todestag von Johann Sebastian Bach Dmitrij Schostakowitsch in Leipzig u. a. Jurymitglied beim Bach-Wettbewerb war und die junge Pianistin Tatjana Nikolajewa Bachs "Wohltemperiertes Clavier" spielen hörte, war er beeindruckt, und so entstand die Idee, etwas Ähnliches zu komponieren.
Kompendium des Ausdrucks
Schostakowitsch folgt Bach in der Grundkonstellation, 24 Präludien und Fugen durch alle Dur- und Molltonarten zu komponieren, nur anders angeordnet, also nicht chromatisch wie bei Bach, sondern dem Quintenzirkel folgend. Und wie bei Bach gibt es auch hier satztechnische Raffinessen, aber ebenso eine hohe Emotionalität von ausgelassen bis tieftraurig.
Schostakowitsch hat verstanden, dass Bach bei aller Kunstfertigkeit keine konstruierte Kopfmusik geschrieben hat, sondern ein Kompendium der Ausdrucksmöglichkeiten von Musik. Nur eben jetzt im 20. Jahrhundert verortet, und das schließt Ironie, Sarkasmus, Spaß am auch gerne mal sinnfreien Tüfteln und bösen Spott nicht aus.
Ansatz mit Respekt
Yulianna Avdeeva geht zunächst mit großem Respekt an die Sache, und das gut vorbereitet. Um während der einzelnen Stücke nicht blättern zu müssen, hat sie sich alles sehr klein kopiert auf das Pult gestellt. Die abgespielten Noten werden anschließend zusammengefaltet und auf ein Beistelltischchen gelegt.
Die Pianistin wirkt unglaublich fokussiert, man hat das Gefühl, sie ist mit ihrer Musik ganz bei sich, das Publikum im immerhin ausverkauften Pierre Boulez Saal scheint ausgeblendet. Ein guter Ansatz, sich bei einem Konzert von mit Pause fast drei Stunden nicht gleich von Anfang an zu verausgaben.
Das Freundliche bis zur Pause
Yulianna Avdeeva ist eine große Erzählerin am Klavier. Melodisch ist es bei ihr immer präsent, sehr verdichtet, selbst in den kompliziertesten Fugen hört man die Themen plastisch heraus. Es ist ein bisschen wie bei einer Power-Point-Präsentation: Die wichtigsten Punkte sind noch einmal stichwortartig zusammengefasst. Dazu kommt ihr traumhafter Anschlag – das Zarte, Freundliche, auch Verschattete scheint wunderbar auf, sie öffnet der Musik die Tür und bietet ihr eine Tasse Tee an.
Das ist schön, sogar sehr schön, aber bis zur Pause dann doch zu wenig. Wenn Schostakowitsch scheinbar heiteres Dur ironisch klingen lässt, Bewegungen in Musik unterbricht und zu Eis erstarren lässt und man nie genau weiß, was auf einer zweiten Ebene gemeint ist. Dieser doppelte Boden blieb zunächst wenig beackert.
Aus einem guten wird ein großartiger Abend
Bis etwas passierte. Schon die letzte Fuge (in gis-Moll!) vor der Pause, ein Stück, für das man mindestens fünfzehn Finger benötigt, bekam plötzlich einen Ansatz von Dringlichkeit und Unbedingtheit. Und das hat Yulianna Avdeeva im zweiten Teil dann konsequent fortgeführt. Da war alles das vorhanden, von dem man zuvor zu wenig erkennen konnte.
Auf einem kargen Tremolo lag eine entsetzlich traurige Melodie, dass es einem den Hals zudrückte, gleich danach eine irrwitzige Fuge, bei der man Knoten in die Finger bekommen konnte und die immer wieder mit banalen Einsprengseln durchzogen ist, als wollte Schostakowitsch den stalinistischen Kulturfunktionären den Mittelfinger entgegenstrecken. Da gab es zu Recht vom Publikum spontanen Beifall.
Und am Ende wurde in einer gigantischen Steigerung aus dem Klavier ein ganzes Orchester. Da hatte die Musik das Existenzielle, was sie braucht. Und so wurde aus einem guten ein wirklich großartiger Abend.
Andreas Göbel, radio3