Anora; © Augusta Quirk
Augusta Quirk
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Film - "Anora"

Bewertung:

Was die unterschiedlichen Helden der Filme von Sean Baker verbindet, ist dass sie allesamt an den Rändern der Gesellschaft leben, wo Kinogeschichten eher selten spielen: Illegale chinesische Immigranten in Take out, ein New Yorker Stricher in Prince of Broadway, Transgender-Prostituierte in Tangerine L.A., White Trash-Kids und ihre alleinerziehenden, prekären Mütter in einem billigen Motel am Rande von Disneyland in The Florida Project. Doch der Blick, den der Autor und Regisseur auf diese unterprivilegierten Menschen richtet ist so liebevoll und zärtlich, dass man ihn fast für einen Sozialarbeiter halten könnte. Das gilt auch für seinen neuesten Film Anora, der auf dem Filmfestival in Cannes mit der goldenen Palme ausgezeichnet wurde.

Anora ist der Name einer jungen, russischen Sexarbeiterin in einem New Yorker Strip Club. Als Zuschauer wird man ganz unmittelbar und direkt in dieses wuselnde, schwüle Leben hineingeworfen: Die Frauen vollführen in schummrig rotem Licht Labdances und räkeln sich lasziv an Pole-Stangen, sie schwatzen und zanken sich. Mit ihrer selbstbewussten Energie fällt Anora, genannt Ani, da sofort auf, man spürt, diese kleine, zierliche Person, lässt sich nichts gefallen: Als einer der Bosse Ani in der Mittagspause zu einem russischen Kunden holen will, meint sie, sie esse gerade, und überhaupt, ein bisschen mehr Respekt bitte. Als ihr der junge Russe Vanya vorgestellt wird, lenkt sie ein, lässt ihre sinnlich verführerische, mädchenhafte Ausstrahlung wirken: "Ich versteh russisch, ich sprech russisch, nur tu ich‘s nicht so gern, aber du kannst ruhig, okay, sprich russisch, ich versteh es." Vanya (Mark Eydelshteyn) wiederum ist der Sohn eines russischen Oligarchen, der einerseits fast wie ein scheuer, linkischer Teenager wirkt, andererseits total großkotzig, das verwöhnte Balg eines russischen Oligarchen. Die Eltern haben ihn zum Studieren nach New York geschickt, doch er zieht vor allem mit einer Meute Freunden durch die Nächte von New York und Las Vegas, wo die Angestellten des Casino-Hotels sofort nervös nach seiner Pfeife tanzen, schleunigst die Gäste aus der favorisierten Suite werfen und den roten Teppich ausrollen. Auf Vanyas scherzhaft verspielten Auftritt reagieren die Angestellten mit spürbarer Angst vor den Konsequenzen eines unzufriedenen Oligarchensprösslings.

Eine eigenwillige Ninotchka

Zwischen der Prostituierten und dem Oligarchensöhnchen entwickelt sich eine Märchen-Romanze, die an "Pretty Woman" erinnert, wie Julia Roberts Vivian taucht nun auch Ani als Freundin auf Zeit ein paar Tage ins Highlife ein, die beiden verbringen Silvester gemeinsam, und in Las Vegas hält Vanya um Anis Hand an.

Als die Eltern in Russland von der Ehe ihres Sohnes hören, setzen die allerdings alle Hebel in Bewegung, um sie zu annullieren. Doch wieder zeigen sich die Wehrhaftigkeit und der Kampfgeist von Ani, so leicht lässt sie sich nicht ausbooten, selbst den armenischen Muskelprotz-Bodyguards bietet sie mit ihrer Energie und Wendigkeit handgreiflich und wortgewaltig Paroli, was im weiteren Verlauf dazu führt, dass zwischen Wortwitz und Slapstick die halbe Einrichtung der Luxusvilla zu Bruch geht. Da erinnert der Film fast ein bisschen an Billy Wilder oder an Greta Garbos "Ninotchka", mit diesem Spiel zwischen den Verlockungen des Westens und den rigiden Regeln in Russland, wobei Mikey Madison allerdings ein ganz anderes Kaliber ist als die Garbo: Nach einer kleineren, aber eindrucksvollen Rolle in Quentin Tarantinos "Once upon a tim in Hollywood" und einer prominenteren in der Serie "Better Things" hatte, wird sie hier zum Kraftfeld des Films.

Weder romantisierend, noch herablassend

So, wie sich die Charaktere nicht auf ein Merkmal oder ein Gefühl festlegen lassen, wechselt auch der Film die Stimmlagen und Genres. Fließend sind die Übergänge von einer Milieustudie im Strip-Club zum Cinderella-Märchen, und mit dem Auftauchen der russischen Eltern auftauchen, zum verrückten Verfolgungsjagd-Abenteuer quer durch Amerika und während sich das alles rauschhaft und hektisch überschlägt, entwickelt sich im Windschatten schon wieder eine ganz andere, leise, gefühlvolle Geschichte.

Es gab Kritiker, die Sean Baker vorwerfen, dass sein neuester Film feelgoodmäßig verlogen sei, doch bei allem Romcom und Screwball-Comedy-Spaß, bleiben seine Milieuschilderungen wahrhaftig. Statt die Härten des Lebens einer Sexarbeiterin zu verharmlosen, statt sie auf die schwierigen, niederschmetternden Lebensverhältnisse zu reduzieren, erzählt er auch von ihrer Energie, ihrer Vitalität, ihrer Lust am Leben. Der Spagat zwischen dokumentarischer Wahrhaftigkeit und seinem audiovisuellen Ideenreichtum gelingt schon deshalb, weil er immer zärtlich und liebevoll auf diese Menschen und ihre Sehnsüchte schaut, weder romantisierend, noch herablassend, und schon gar nicht mitleidig.

Anke Sterneborg, radio3

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