Quiet Life © Les Films du Worso / SFP
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Drama - Quiet Life

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Nach sieben Jahren seit seinem letzten Film, dem Leihmutter-Drama "Love me Not" hat der griechische Regisseur Alexandros Avranas seinen neuen Film "Quiet Life" im letzten Jahr auf dem Festival in Venedig vorgestellt. Am kommenden Donnerstag kommt er in unsere Kinos. Wie in all seinen Filmen untersucht er auch hier soziale und politische Themen. Im Zentrum steht eine russische Familie, die in der Heimat politisch verfolgt wird und in Schweden auf Bleiberecht hofft.

Die Superkraft einer Dreizehnjährigen

2018 in Schweden: Nach und nach kommen die vier Mitglieder der Familie, Mutter, Vater und zwei Töchter ins Bild, und postieren sich frontal wie für ein Foto im Eingangsbereich ihrer Wohnung. Ein Mann und eine Frau betreten die seltsam nüchtern eingerichtete Wohnung, schauen in jede Ecke und jeden Topf, hinterfragen jeden Aspekt des Lebens, loben die vorbildliche Ordnung, das frisch gekochte Essen. Ein wenig mutet die bedrückende Szene an, wie ein Appell im Gefängnis. Beim Weggehen wünschen die beiden Beamten viel Glück für den nächsten Tag, an dem in der Behörde die Entscheidung über ihren Asylantrag verkündet werden soll.

Beim Abendessen sind Eltern und Kinder guter Dinge: Ich möchte Astrid heißen,“ sagt eine der Töchter: "Morgen wenn wir doch dann alle Schweden sind, dann brauchen wir auch schwedische Namen" Der Vater stimmt ein: "Ich will auch einen Namen: Sven." Und die kleine Schwester sagt, dass sie dann Ingrid heißen wolle, und wählt für ihre Mutter ebenfalls einen Namen: Hilde. "Hilde?" fragt die Mutter, das gefällt ihr.

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Ablehnung des Asylantrags

Am nächsten Morgen laufen Eltern und Kinder adrett gekleidet über einen menschenleeren Platz und eine breite Treppe ins imposante Gebäude der Einwanderungsbehörde. Dann sitzen sie in einem einschüchternden Büroraum vor dem Schreibtisch der Beamtin, per Telefon ist eine Übersetzerin zugeschaltet. Galizin ist Lehrer und aufgefallen, weil er sich systemkritisch geäußert hat: "Zwei Tage nach Veröffentlichung des Artikels wurde Galizin von Männern in Polizeiuniform bedroht." Protokolliert die schwedische Beamtin: "Zwei weitere Männer, die Galizin als Agenten der föderalen Nachrichtendienste identifizierte, versuchten ihn zu töten." Eigentlich eine klare Sache, doch dann zerschellen alle Hoffnungen. Wegen angeblich fehlender Nachweise wird der Antrag abgelehnt.

Die Beamtin bleibt ungerührt, auch als der Vater sich das Hemd auszieht, um seine Narben zu zeigen: "Schauen Sie mich an! Sehen Sie das? Schauen Sie mich an!" fleht er. "Bitte setzen Sie sich, die Türen werden erst geöffnet, wenn Sie sich hingesetzt haben." Schallt es aus dem Lautsprecher. "Sie haben 10 Tage Zeit, um Beweise oder unterstützende Zeugenaussagen beizubringen und Berufung einzulegen. Wenn bis zu dieser Zeit keine Berufung eingelegt wird, wird der Bescheid rechtskräftig und Sie werden aus Schweden ausgewiesen." Hier das menschliche Schicksal, dort die mechanische Durchsetzung einer unmenschlichen Bürokratie, und das ausgerechnet in Schweden, dem Land, das vor nicht allzu langer Zeit noch berühmt war, für seine liberalen Werte.

Distopisch anmutende Gegenwart

In diesem dystopisch anmutenden Szenario wird Schweden zum kafkaesk bedrohlichen Alptraum, in dem es immer noch schlimmer kommt. Unter dem Druck des Systems beschließt die Familie, ihre jüngste Tochter, die einzige Zeugin des Angriffs doch aussagen zu lassen. Aber dann fällt diese vor ihrer Schule bewusstlos in sich zusammen. Unweigerlich denkt man an die Giftanschläge auf russische Dissidenten im Ausland. Es folgen Untersuchungen und Therapieverordnungen, und schließlich die Diagnose „Resignationssyndrom“: Unter psychischem Stress fährt das Bewusstsein in einen komatösen Zustand runter, weil sich das Mädchen nicht sicher fühle, erklärt die Ärztin ohne jegliche Empathie.

Eine neues Krankheitsbild unter geflüchteten Kindern

Erstmals diagnostiziert wurde das Syndrom in Schweden in den 90erJahren, betroffen sind insbesondere Kinder in psychisch belastenden Migrationsprozessen. Alexandros Avranas nutzt das Krankheitsbild als Vorlage für ein distopisch anmutendes Szenario, eine futuristisch beklemmende Version des Jahres 2018, in dem diese Geschichte spielt. Das geht soweit, dass den Eltern das Besuchsrecht erst eingeschränkt, dann ganz entzogen wird. Sie selber werden in eine Art Umerziehungsprogramm gesteckt, in dem sie lernen sollen, positive Signale zu vermitteln, ihren Kindern eine grotesk heile Welt vorzugaukeln.

Der Kurs beinhaltet eine Anleitung zum eingefrorenen Dauerlächeln: "Schürzen Sie die Oberlippe bis Ihre Zähne die Unterlippe berühren, halten Sie, halten Sie und halten Sie …. Und jetzt entspannen …" Dabei verzieht die roboterhafte Kursleiterin ihr Gesicht zu einer grässlichen Grinse-Grimasse.

Universelle Allegorie für unmenschliche Abschiebepraktiken

Das real existierende Krankheitsbild des "Child Resignations Syndroms", das seit den Neunzigerjahren vermehrt bei Kindern von Geflüchteten diagnostiziert wurde, wird in Alexandros Avranas beklemmend kühler Vision zur universellen Allegorie auf die Unmenschlichkeit weltweiter Abschiebepraktiken, und zugleich zu einer Satire auf die Erosion der einst so liberalen schwedischen Gesellschaft. Wenn die von Chulpan Khamatova gespielte Mutter ihren leblosen Töchtern eine DVD mit der Pippi Langstrumpf-Animations-Serie einlegt, dann könnte die Situation der Mädchen nicht weiter entfernt sein, von der fröhlichen Anarchie des Mädchens mit den hüpfenden, roten Zöpfen: "Was soll ich heute tun? Ha auf meinem Bett zu hüpfen, das find ich amüsant, Herrn Nilson und kleinen Onkel trag ich mit einer Hand, den Schottentanz, den tanz ich ganz doll und immerzu, lauf in der Küche Schlittschuh, kein Pfannkuch‘ findet Ruh, mach Radschlag in der Schule und jetzt geht es richtig rund …"

Anke Sterneborg, radio3

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