Fantasy-Drama - "Was Marielle weiß"
"Was Marielle weiß" ist nach "Model Olimpia" der zweite Film des in Stuttgart geborenen Frédéric Hambalek. Der Film ist eine Art Versuchsanordnung, in deren Verlauf das Gefüge einer bürgerlichen Kleinfamilie durcheinandergewirbelt wird. Premiere feierte der mit Julia Jentsch und Felix Kramer prominent besetzte Film im Februar im Wettbewerb der Berlinale. Jetzt kommt er in unsere Kinos.
Die Superkraft einer Dreizehnjährigen
Marielle ist die 13jährige Tochter von Julia und Tobias, eine kleine Familie, die in bürgerlichem Wohlstand in einer deutschen Kleinstadt ohne besondere Kennzeichen lebt. Was sie weiß und warum eröffnet sie ihren Eltern, nach einem Vorfall in der Schule: "Svenja hat mich heute geohrfeigt." Ohne weitere Nachfragen stellen sich die Eltern solidarisch auf die Seite ihrer Tochter: "Ach Kleines, sowas musst du doch gleich sagen! Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt." Das sei schon okay, meint Marielle, "Nein, das geht nicht!" widerspricht die Mutter. Als Marielle insistiert, sie habe sie vorher Schlampe genannt, relativiert der Vater halbherzig: "Oh, naja, das ist jetzt auch nicht nett! Ja, okay, das geht natürlich nicht, Marielle."
Schon in diesem kleinen Austausch wird spürbar, dass die Eltern zwischen Helikopterfürsorglichkeit und den Ansprüchen an politisch korrekte Erziehung ins Schlingern kommen. Und dann eröffnet Marielle den Eltern ihre neue Superkraft: Seit der Ohrfeige, könne sie alles sehen und hören, was die Eltern machen. Was der Vater zunächst für ein neues Spiel hält, verändert die Kräfteverhältnisse in der kleinen Familie nachhaltig.

Kalt erwischt
Es dauert ab eine Weile, bis den Eltern die ganze Tragweite dieser neuen Situation klar wird. Das beginnt mit kleinen Dingen, wie Julias heimlich gerauchte Zigaretten, es geht weiter mit einem ausgesprochen offensiven Flirt mit einem Kollegen. Auch die Auseinandersetzung um den Entwurf eines Buch-Covers hört sich in Tobias Erzählung ganz anders an, als es Marielle und mit ihr die Zuschauer zuvor gesehen haben. "Da habe er mal ne richtige Ansage gemacht", behauptet er. "Nein, hast du nicht" entgegnet lapidar die Tochter. Kalt erwischt, kann man da nur sagen.
Frühkindliche Überwachung mit dem Babyfon
Die Idee zu diesem Film kam Frédéric Hambalek als befreundete, junge Eltern ihm ihr neues Babyfon mit Monitor vorgeführt haben. Diese Überwachungssituation kam ihm irgendwie übergriffig und falsch vor, wie ein Angriff auf die Privatsphäre des Babys, obwohl dem Kind keineswegs "hinterherspioniert", es auch nicht "überführt" werden, sondern die Maßnahme lediglich die Gesundheit des Kindes sichern sollte. Davon ausgehend hat er sich überlegt, was wäre, wenn man den Spieß mal umdrehte, wenn ein Kind plötzlich Zugriff auf alle Intimitäten und Geheimnisse der Eltern hätte.
Verschärft wird die Situation dadurch, dass Marielle ein pubertierender Teenager ist, der sich naturgemäß gegen die Eltern behaupten und abgrenzen möchte. Im Film führt das dazu, dass die Eltern eine Unterhaltung über die Indiskretionen ihrer Tochter in gestelztem Schulfranzösisch führen, bis Julia so empört ist, dass es ihr egal ist, ob ihre Tochter verstehen kann, was sie sagt.

Verschobene Kräfteverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kind
Im weiteren Verlauf eskaliert der Streit und wechselt dabei in rasantem Tempo die Tonlage von feindlich über herablassend zu beleidigt und manipulativ. Das Kind agiert plötzlich auf Augenhöhe mit den Eltern, während sich die Erwachsenen gegenseitig immer mal wieder wie Kinder behandeln. Wenn Julia ihr Recht auf einen Seitensprung (was ist denn schon dabei?) reklamiert, stellt Tobias ihre Erziehungswerte infrage.
Dabei schaukelt sich der Film zu einer beißenden Familiensatire hoch, mit einer ganzen Reihe manipulativer und absurd komischer Manöver aller Beteiligten. Im gesellschaftspolitischen Diskurs über Privatsphäre und Überwachung kommen dann bald auch die Grenzen moderner Elternschaft ins Spiel: Wie war das noch mal mit der gewaltfreien Erziehung, wenn eine zweite Ohrfeige den misslichen Vorgang womöglich rückgängig machen könnte?
Visuell gleicht "Was Marielle weiß" einem Laborversuch, einer Versuchsanordnung in extrem kühler, steriler Umgebung, in nüchternen Büros und durchdesignten Wohnungen, in denen keine Wärme aufkommt. Das geht so weit, dass die im Film sichtbaren Nummernschilder keine realen Orte repräsentieren. Julia Jentsch wirkt als Mutter extrem spröde, nur Felix Kramer verströmt bei aller Kläglichkeit noch eine gewisse charismatische Wärme. Laeni Gaiseler spielt ihre kleine, provokante Superheldin zurückhaltend und kontrolliert und erinnert immer wieder an die unheimlichen Kinder in den Filmen von Michael Haneke. Die Stärke des Films liegt darin wie er gesellschaftliche und familiäre Muster präzise auslotet und vorführt, was durchaus dazu führen kann, dass man sich auch als Zuschauer ertappt fühlt.
Anke Sterneborg, radio3