Roman - Ewald Arenz: "Zwei Leben"
Gegen Ende versinkt man in Rührung wie in Treibsand. Und der ist so tief, dass sich eine Frage aufdrängt: Soll man ein derartiges Buch, das sich so wohl fühlt in der Darbietung und Evokation von Gefühlen, überhaupt mit dem kalten Sezierbesteck der Kritik traktieren? Oder reicht der Hinweis: In "Zwei Leben" spielt das schiere Leben so gewaltig auf, wie es in Bestform halt gern mal aufspielt? ... Und Ihr, liebe Leser aller Geschlechter, könnte nach der Lektüre sagen, Ihr seid hautnah dabei gewesen – wischt jetzt aber bitte Eure Tränen ab!
Um sachlich zu bleiben: Wir befinden uns im Jahr 1971. Das eine der beiden titelgebenden Leben gehört der zwanzigjährigen Roberta Strasser. Sie kommt nach dreijähriger Schneiderlehre, die sich als ödeste Fabrikarbeit entpuppt hat, aus einer großen Stadt in ihr süddeutsches Heimatdorf zurück, oder anders: in die vertraute Sackgasse ihrer Träume. Denn Roberta fühlt sich dem Fortbestand des elterlichen Hofes verpflichtet, liebt auch das Ländliche, würde aber noch lieber in Paris tolle Kleider entwerfen.
Das zweite Leben lebt Gertrud, die gebürtige Hamburgerin. Sie ist einst mit ihrem Gatten Hermann, dem professoral vergeistigten Pfarrer, in das jederzeit vor Kälte starrende Pfarrhaus auf dem Dorf gezogen – "für fünf Jahre", so war's verabredet. Nun sind zwei Jahrzehnte daraus geworden. Und Gertrud, die innerlich wie äußerlich die Großstadt niemals abgeschüttelt hat, würde gern noch einmal – leben.
Ein bezwingender Stoff aus Lebensfäden
Ewald Arenz weiß, wie damals auf Bauernhöfen gearbeitet wurde. Er verfügt sogar über spezielle Kenntnisse jenseits von Treckerfahren und Kühemelken. Deshalb kann er souverän beschreiben, wie Robertas Opa für seine Enkelin einen alten Webstuhl aufmöbelt, damit sie für Wilhelm, den Pfarrerssohn, ein cooles Hemd weben kann.
Und mindestens so geschickt wie Roberta oder, sagen wir, wie die mythologischen Parzen webt Arenz seinerseits die Lebensfäden seines Personals zu einem bezwingenden Stoff: Da ist im Hintergrund der Selbstmord des schönen Bernd; da ist die junge Liebe von Roberta und Wilhelm, die auch sexuell ordentlich durch die Decke geht; die ewige Dumpfheit von Robertas Eltern; Hermanns Weltferne und Gertruds One-Night-Stand in Italien; die Homosexualität ihres Bruders Georg; die Beziehung, die Robertas Opa als Kriegsgefangener in den USA mit Elly hatte, einer Schwarzen; zwei Schwangerschaften, eine Abtreibung, mehrere Unfälle mit diversen Todesfolgen, zwei Beerdigungen, eine späte Geburt; Versöhnungen und Aussprachen, Entscheidungen und Revisionen ...
Metaphorik vom Wühltisch
Das hätte man kaum für möglich gehalten, als "Zwei Leben" ganz langsam in die Spur fand mit dem Erwachen gemischter Gefühle bei Robertas Ankunft auf dem Lande. Dass Arenz Roberta gleich auf Seite 13 nach Emily Brontës "Sturmhöhe" oben im Regal greifen lässt ("Das hatte sie immer gemocht. So voller Kraft."), darf man als kleine Koketterie verstehen: "Sturmhöhe" wird von zwei Ich-Erzählern präsentiert, "Zwei Leben" aus der Perspektive zweier Frauen erzählt.
Das Böse aber, mit dem in "Sturmhöhe" viele Charaktere kämpfen, hat im letztlich warmherzig-betulichen "Zwei Leben" einen schweren Stand. Dafür fehlt es nicht an Kolportage-Elementen. Ein erzählerisch passendes Ableben zur Stärkung der tragischen Untertöne steht Arenz immer zur Verfügung. So wie er an der Grenze zum Kitsch keinen Stacheldraht duldet. Einmal schaut Roberta nach oben und sieht: "Die Wolken am Himmel, als hätten sie es eilig, irgendwo hinzukommen. So wie sie …" – Metaphorik vom Wühltisch, Sommer-Schlussverkauf.
Noch ein Beispiel, Roberta hört Musik: "Manche Lieder sind wie Fenster für mich, dachte sie. Wie Fenster in ein Leben, das ich nicht führe, und ich stehe in der Öffnung, lehne mich an den Rahmen und sehe sehnsüchtig hinaus." Ist das objektiv schlimm? Ach, wo! Nur merkt man halt deutlich, dass "Zwei Leben" keine höheren Ansprüche stellen will.
"Zwei Leben" lässt sich locker wegfrühstücken
Romane zu vergleichen, ist immer irgendwie unfair, kann aber bei der Orientierung helfen. "Zwei Leben" etwa ist in puncto Gefühls-Evokation durchaus verwandt mit "Hard Land" von Benedict Wells und in puncto früh-erwachsener Emanzipation mit "21 Bahnen" von Caroline Wahl. Wells hantiert geschickt mit der Pop-Geschichte, Wahl mit sozialen und ökonomischen Verhältnissen.
Arenz trägt eine Geschichte über das Menschliche und Allzumenschliche auf dem Dorfe vor, in der er ziemlich ungeniert seine Lust am Schicksalsfädenweben befriedigt. Trotzdem oder deshalb lässt sich der Roman locker wegfrühstücken. Ob er sättigen kann, hängt von der Größe des literarischen Hungers ab.
Arno Orzessek, radio3