Christoph Ransmayr: Egal wohin, Baby © S. Fischer
S. Fischer
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Mikroromane - Christoph Ransmayr: "Egal wohin, Baby"

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Christoph Ransmayr, geboren 1954 in Oberösterreich, ist ein notorisch Reisender. Mit leichtem Gepäck unterwegs sein und die Welt erleben, ist für ihn Voraussetzung, um schreibend seine tatsächlichen und imaginierten Reisen in Literatur zu verwandeln. "Die Schrecken des Eises und der Finsternis", "Die letzte Welt", "Der fliegende Berg" - die Liste seiner Romane ist lang. "Unter einem Zuckerhimmel", der 12. Band seiner Buch-Reihe "Spielformen des Erzählens", wurde von Anselm Kiefer mit verstörenden Bildern in Szene gesetzt. Ransmayrs neues Buch heißt "Egal wohin, Baby" und versammelt Geschichten, die vom Autor als "Mikroromane" bezeichnet werden.

Es sind literarische Schnappschüsse aufgrund von Eindrücken, Empfindungen, die Ransmayr auf seinen Reisen rund um den Globus hatte und dann in spielerische, fantasievolle, manchmal auch tragikomische und absurde Mini-Erzählungen verwandelt. In einer Vorbemerkung heißt es, die "Mikroromane" würden ausschließlich Tatschen und Fragmente seines Lebens enthalten: "Alle wurden sie an den angegeben Orten und zu den angegebene Zeiten tatsächlich erfahren, ausgestanden oder erlitten."

70 Mikroromane und Fotos

Zu den 70 Mikroromanen gesellen sich 70 Fotos in Schwarz-Weiß, die er ohne jeden gestalterischen und technischen Aufwand gemacht hat - im Vorübergehen, ohne künstlerische Ambition: optische Notizen, die der bildhaften Erinnerung dienen und dann die literarisch filigranen Texte untermalen und kommentieren, die er unter dem Namen "Lorcan" verfasst hat, um zum Erlebten auf Distanz zu gehen, Freiraum zum Erzählen zu schaffen, sich als einem Anderen zu sehen und neu zu erfinden.

Den Namen hat er sich aus einem Fragment geborgt, mit dem er sich seit einiger Zeit herumquält, ein noch ungeschriebener Roman, der bislang nur aus Kritzeleien besteht und später einmal den Titel "Swan oder Der Puls der Sterne" tragen und von der "Entdeckung der wahren Größe des Universums handeln soll". Indem er sein Leben als "Lorcan" und mithilfe von literarischen Schnappschüssen und optischen Notizen sichtbar macht, will er sich "Vom Gewicht seiner Erinnerungen" befreien und sich von einem "erschöpften Touristen" und von Sehnsucht und Neugier getrieben Reisenden in einen "gelassenen Erzähler" verwandeln.

Unterwegs mit "Lorcan" - von Murmansk bis zu den Osterinseln

An Bord eines russischen Eisbrechers reist er von Murmansk bis zum Nordpol und beobachtet Polarbären, die mit ihre mächtigen Vordertatzen gegen den Stahlbauch des Schiffes drücken und zu den Passagieren hochblicken, "in der Erwartung eines herab geworfenen Fraßes folgsam wie Pudel, die nach einem kleinen Dressurkunststück auf ihre Belohnung warten".

Er erkundet die Osterinseln, philosophiert über das Verschwinden der Rapa Nui und die riesigen Steinskulpturen; er steht staunend vor den Sonnenpyramiden der Azteken, besucht eine abgelegene, vom Tsunami verwüstete Pazifikinsel, die einst Meuterern der Bounty Unterschlupf gewährte und Daniel Defoe zu seinem Roman über Robinson Crusoe inspirierte.

Die Spuren von Verbrechen

Immer wieder entdeckt Lorcan die Spuren von Verbrechen: In Kambodscha steht er vor Bergen mit Knochen und Schädeln der Opfer des Pol-Pot-Regimes; in Litauen stapft er auf den "Berg der Kreuze", der an die von Besatzern angerichteten Schrecken erinnert; in der Nähe von Neapel geht er der Geschichte von SS-Schergen nach, die in Italien Massaker befohlen hatten, eine lebenslange Haft in der Festung Gaeta verbringen sollten, aber bald schon wieder frei kamen und in Neonazi-Kreisen verehrt wurden. Mehrfach reist er nach Griechenland, der Wiege aller Sagen und Legenden, spürt der "Ilias" und der "Odyssee" nach, wird zu einem Homer unsere Tage, der das Überlieferte und Ungesicherte ins Heute schmuggelt und es zu einem zeitlos wahrhaftigen Kunstwerk formt.

"Bloß weg, egal wohin, Baby!"

Der Titel des Buches bezieht sich auf ein charmantes Erlebnis: Ransmayr ist zu einer Lesung in Ingolstadt eingeladen, der Zug hat Verspätung, also hetzt er im Laufschritt Richtung Kulturzentrum, das in einer Lagerhalle am Bahnhof untergebracht ist. Da sieht er an einer Wand der Halle einen mit weißer Farbe gesprayten Spruch, der ihn innehalten und die Kamera zücken lässt: "Egal wohin, Baby".

Stammt der Satz von einem Alltagsphilosophen? Will jemand seiner Geliebten an jeden Ort der Welt folgen? Oder will er sagen, dass es egal ist, wonach man sich sehnt und wohin man flieht, man findet sowieso überall dasselbe? Nach der Lesung will er sich die Wand und den Satz noch einmal genauer ansehen, doch als ihm dort der vermeintliche Dichter mit Spraydose über den Weg läuft, hält der ihn für einen Gesetzeshüter und nimmt ängstlich Reißaus: Bloß weg, egal wohin, Baby!

Bei den Silberrücken

Einmal ist Lorcan in den Wäldern zwischen Uganda und dem Kongo unterwegs, dort tobt ein Stammeskrieg mit vielen Toten, doch eine Zoologin beruhigt ihn und seine kleine Reisegruppe, führt sie tief hinein in den Dschungel zu "ihren Gorillas", "Silberrücken", die so versteckt leben, dass der Krieg der Menschen, wie die Zoologin sagt, "keinen Weg zu ihnen gefunden" hat. Nach langer Wanderung in rauschendem Regen hockt plötzlich vor ihnen ein Gorilla, ein "silberhaariger König und Beschützer seines Clans". Nachdem sie ihre Angst überwunden haben, versuchen sie das Räuspern und Grunzen nachzuahmen, das unter Gorillas als Zeichen von Vertrauen und freundlichem Interesse gilt.

"Der Silberrücken", schreibt Lorcan, "der wohl an die zweihundert Kilo schwer im Busch thronte, hörte diesem Grunzen fast nachsichtig zu und sah seinen Besuchern in die Augen, so lange und so tief hinab in ihre Seelen, daß sie mit einem Mal ganz die Seinen waren (…), und ließ seine Gäste jenen Laut hören, den sie vergeblich nachzuahmen versucht hatten. Er räusperte sich. Er grunzte sanft. Und das bedeutet, so hatten die Besucher es von den Wildhütern gelernt: Es ist gut. Alles ist gut."

Als sich der Clan ins Dickicht zurückzog, erinnert sich Lorcan, "erhob sich auch der Silberrücken und ging so dicht an seinen Gästen vorüber den Seinen nach, dass sein tropfendes Fell Lorcans Schulter streifte, und holte in einiger Entfernung eine seiner Frauen ein, die wie eine Madonna mit Kind unter einem Trompetenbaum Schutz vor den Wasserschleiern suchte. Dort beugte sich der Silberrücken über Mutter und Kind und nahm sie unter sein wärmendes Dach."

Welch großartige Geschichte, was für eine wunderschöne Sprache: Wen das nicht anrührt und erahnen lässt, wie groß und geheimnisvoll und zerbrechlich die Schöpfung ist, die es zu bewahren gilt, dem ist nicht wahrlich zu helfen.

Frank Dietschreit, radio3

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Die Literaturagenten

Weihnachtszeit heißt: kaum Zeit zu lesen. Deshalb gibt es in den Literaturagenten heute u.a. Literatur in hohen Dosen: Bücher mit kurzen Texten, die es umso mehr in sich haben, wie die "Mikroromane“ von Christoph Ransmayr, die unnachahmlichen Kurztexte von Lydia Davis und das "Winterbuch der Liebe“ von Dora Kaprálová.

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