Kristine Bilkau: Halbinsel © Luchterhand
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Roman - Kristine Bilkau: "Halbinsel"

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Kristine Bilkau zählt zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Die 1974 geborene Autorin studierte in Hamburg und New Orleans. Bereits ihr Roman-Debüt "Die Glücklichen" fand ein großes Medienecho und wurde mehrfach ausgezeichnet. Mit ihrem Roman "Nebenan" stand sie 2022 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Heute erscheint ihr neuer Roman. Er trägt der Titel "Halbinsel" und ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Die "Halbinsel" liegt im Norden von Schleswig-Holstein, aber sie hat keinen Namen, es könnte sich um die Eiderstedter Halbinsel handeln oder um Nordstrand, das bleibt bewusst in der Schwebe. Das Wattenmeer ist nicht weit und Husum, die graue Stadt am Meer, ist mit dem Auto schnell zu erreichen.

In Husum arbeitet die Ich-Erzählerin in einer Bibliothek. Sie heißt Annett, ist Ende 40 und seit dem Tod ihres Ehemanns alleinerziehende Mutter. Ihre Tochter, Linn, ist jetzt Mitte 20 und wohnt seit einigen Monaten in Berlin. Nach dem Abitur ist Linn voller Elan hinaus in die Welt gezogen, hat sich in schwedischen und rumänischen Wäldern als Klimaaktivistin engagiert und arbeitet jetzt für eine Umweltorganisation, die Öko-Hotels betreibt und Klimatagungen organisiert.

Linn scheint eine selbstbewusste und starke junge Frau zu sein, die sich aufmacht, die Welt zu retten und dabei auch noch eine erfolgreiche Karriere hinzulegen. Das glaubt und hofft jedenfalls ihre stolze Mutter, die dann umso überraschter ist, als sie hört, dass Linn während einer Umwelttagung, gerade als sie zu einem Vortrag ansetzen wollte, einen Zusammenbruch hatte und in Ohnmacht gefallen ist.

Neuaufbau der Mutter-Tochter-Beziehung auf der "Halbinsel"

Damit sie sich erholen und wieder zu Kraft kommen kann, holt Annett ihre Tochter zu sich auf die "Halbinsel", in das Einfamilienhaus, in ein verschlafenes Dorf, ein Kaff, in dem es nichts gibt außer einem kleinen Bäckerladen. Aber die "Halbinsel" gibt einem wenigstens die Möglichkeit, schneller wegzukommen als von den Inseln und Halligen, sich woanders die Wünsche und Träume auf ein anderes Leben erfüllen und den Berg an Problemen, der sich aufgestaut hat, hinter sich lassen zu können.

Zwischen Annett und Linn brechen - stellvertretend für eine ganze Gesellschaft - so ziemlich alle Probleme auf, mit denen wir uns herumschlagen: Klimakatastrophe und Generationenkonflikt, Leistungsdruck, Überforderung, Zukunftsangst.

Die Mutter begreift, dass sie nach dem Tod ihres Mannes die Tochter überfordert hat mit ihrer Einsamkeit und Trauer, sich selbst fast aufgeben und all ihre Hoffnungen auf ihre Tochter projiziert, Linn mit Fürsorge regelrecht erdrückt und jede Freiheit genommen hat. Annett versteht erst jetzt, während ihre Tochter müde und lustlos auf der "Halbinsel" in ihrem alten Kinderzimmer die Zeit vertrödelt, dass Linn keine Durchhalteparolen mehr hören will, sondern sich neu erfinden und ein neue Beziehung zur Mutter aufbauen, das dumpfe Schweigen durchbrechen und sich an den schmerzlich vermissten Vater, dessen Utensilien im Keller verstauben, erinnern möchte.

Annäherung der Generationen und Radikalkritik

Diese Annäherung der Generationen und die Heilung der Wunden geht einher mit einer Radikalkritik an den Lügen von vermeintlich wohltätigen Firmen und Organisationen, die ihre Klimasünden mit CO2-Zertifikaten rein waschen und mit angeblich ökologischen Vorzeigeprojekten gigantische Profite erwirtschaften. Nebenbei wird auch noch Themen wie Heimat und Herkunft angeknipst und die Frage aufgeworfen, wie man einen emotionalen Nullpunkt überwinden und sich auch mit fast 50 noch einmal neu verlieben kann.

Die Autorin agiert als Protokollantin des täglichen Unglücks

Kristine Bilkau vermeidet jedes überflüssige Wort und jede nebensächliche Ausschmückung, verzichtet auf literarischen Glanz, agiert eher wie eine Protokollantin des täglichen Unglücks und hält fest, was gerade Sache ist. Die Erzählweise korrespondiert mit dem Stillstand in einer flachen und öden Gegend, wo man morgens schon sehen kann, wer nachmittags zum Tee kommt. Dem Leser bleibt viel Raum zur Fantasie, man malt sich aus, was im Dunklen bleiben soll und ans Tageslicht geholt werden müsste, fragt sich, wie es wohl weitergeht, nachdem Annett mit einem der jungen Aussteiger von nebenan scheue Blicke wechselt und mit ihm im Haus verschwindet, Linn erst mal in der Bäckerei jobbt, bevor sie wieder hinausfliegen kann in die weite Welt.

Wir erfahren es nicht, so wie wir auch nicht wissen, wie Annett und Linn und all die anderen Menschen eigentlich aussehen, ob sie groß oder klein, dick oder dünn sind: Es ist nicht wichtig in diesem Roman, der manchmal nahe am Schweigen ist und den Figuren jeden Freiraum lässt, den sie brauchen, um entweder auf der "Halbinsel" zu bleiben oder sie, wer weiß, eines Tages vielleicht zu verlassen.

Eine preiswürdige Geschichte, die berührt und bewegt

Die Konkurrenz beim Leipziger Buchpreis ist mächtig, Schwergewichte wie Christian Kracht mit seinem neuen Roman "Air" sind dabei, Wolf Haas mit "Wackelkontakt", Esther Dischereit mit "Ein Haufen Dollarscheine". Die Chance, den Preis zu gewinnen, liegt für Kristine Bilkau darin, dass ihr Roman - im Gegensatz zu den anderen - ganz unaufgeregt daher kommt, dass sie keine großen Experimente wagt, nicht mit Erzähl-Perspektiven hantiert und die Zeitebenen durcheinander wirbelt, die Literatur nicht neu erfinden will, sondern einfach nur eine Geschichte erzählt, die uns berührt und bewegt. Dass sie es mit wenigen Strichen schafft, die Komplexität des Zwischenmenschlichen einzufangen. Der Roman ist traurig und lustig, er macht nachdenklich und gibt Hoffnung: ein Glücksfall der Literatur und absolut preiswürdig.

Frank Dietschreit, radio3

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