Lizzie Doron: Wir spielen Alltag; © dtv
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Roman - Lizzie Doron: "Wir spielen Alltag"

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Lizzie Doron, geboren 1953 in Tel Aviv, ist eine der bekanntesten Autorinnen Israels. Ob in "Who The Fuck Is Kafka", "Sweet Occupation" oder "Was wäre wenn": In ihren Büchern geht es um das Leben und Überleben der Juden nach dem Holocaust und um die Frage, ob und wie ein Frieden in Nahost möglich ist. Wie die Friedensaktivistin auf das Massaker der Hamas und den Krieg in Gaza reagiert hat und wie es weitergehen könnte nach einer solchen Katastrophe: Davon erzählt Lizzie Doron in ihrem neuen Buch: "Wir spielen Alltag. Leben in Israel seit dem 7. Oktober."

Lizzie Doron, die auch eine Wohnung in Berlin hat, war, als das Grauen begann und die gesamte Region ins Chaos gestürzt wurde, in Tel Aviv. Sie schlief tief und fest, dann, exakt um 6 Uhr 29, wird sie von ihrem Mann geschüttelt: Aufwachen, es ist Luftalarm im ganzen Land. Sie eilen in den Schutzraum, wissen aber noch nicht, was geschehen ist, schalten den Fernseher ein, wo ein verwirrter Moderator WhatsApp-Nachrichten vorliest, auf denen Menschen berichten, dass in ihrem Kibbuz Terroristen von Haus zu Haus gehen und ein Massaker anrichten.

Lizzie Doron hört die Detonationen der Raketenabwehr, und als sie wieder aus dem Luftschutzkeller heraus darf und in ihrer Wohnung ist, prasseln Nachrichten auf sie ein. Der Premierminister verkündet: "Unser Volk ist im Krieg". In den sozialen Medien kursieren Bilder von apokalyptischen Szenen, die zeigen, wie Terroristen an der Grenze zu Gaza die Straßen kontrollieren, in den Dörfern unter Johlen und Freudengeschrei Menschen töten und entführen.

In Israel herrscht das nackte Chaos: "Was soll das werden? Was passiert hier?", fragt Lizzie Doron. "Wir starren in den Fernseher, Stunde um Stunde, und verfolgen einen Horrorfilm." Und dann entfährt ihr ein Wort, das Schrecken und Grauen, Wut und Verzweiflung aller Juden ausdrückt, die hofften, nach dem Holocaust nie wieder zu wehrlosen Opfern von Verfolgung und Vernichtung zu werden, und glaubten, in Israel eine sichere Heimstatt gefunden zu haben. Das Wort heißt: "Auschwitz."

Nach Wochen ein Wort

Es ist ein fragmentarisches Tagebuch, durchmischt mit Reflexionen und Erinnerungen, privaten Erlebnissen und politischen Erwägungen. Lizzie Doron skizziert, was seit dem Massaker und der militärischen Reaktion Israels geschah, welches Leid über die Menschen in Gaza gebracht wurde, und dass nach dem fragilen (längst wieder gebrochenen) Waffenstillstand und der Rückkehr einiger Geiseln der Frieden ferner denn je scheint.

Lizzie Doron bewahrt Empathie und Solidarität mit allen Opfern dieses Wahnsinns, geht auf Demonstrationen und besucht den "Platz der Geiseln" in Tel Aviv, nimmt an Begräbnissen und Trauerfeiern teil, spendet Trost, schreibt – auf Bitten von Hilfsorganisationen – kurze Nachrufe für Ermordete, die sie gar nicht kannte. Sie kocht viel, isst wenig, treibt haltlos durch die Tage, hat alle Romanprojekte auf Eis gelegt, bis sie, nach Wochen, ein Wort aufs Papier bringt: "Alarm".

Endlich kann sie beginnen mit dem Buch, von dem sie sagt, es sei: "Ein Erinnerungsdokument. Ein Tagebuch. Vielleicht ein Testament. Ein ungeschütztes Buch. Ein Genesis-Dokument: Am Anfang war ein Alarm, und in der Folge geriet alles aus den Fugen."

Zwischen den Fronten

Lizzie Doron leidet darunter, dass die Ereignisse sich wie Krebsgeschwüre in die eigene Familie und in den Freundeskreis hineinfressen und zu unheilbaren Zerwürfnissen führen. Auf der einen Seite all jene, die auf dem Selbstbehauptungs- und Verteidigungsrecht Israels bestehen, ihre Opfer beklagen und an das Versprechen erinnern, Israel könne allen Juden Schutz gewähren.

Auf der anderen Seite jene, die an die Unterdrückung der Palästinenser erinnern und kein Wort des Mitleids für die Opfer des Massakers haben. Zwischen den Fronten Lizzie Doron, die mit ihren relativierenden "Ja-aber-Erwägungen" auf Ablehnung und Hass stößt, sich mit Familienmitgliedern entzweit und mit einem ihrer besten Freunde, einem Palästinenser, mit dem sie jahrzehntelang von Frieden und Versöhnung geträumt hat, keine gemeinsame Sprache mehr findet.

Wut, Resignation und Schmerz

Es gibt eine Szene, die fassungslos macht: Ein Mann, der aus einem der von der Hamas überfallenen Orte stammt und seitdem mit seiner traumatisierten Familie in einer provisorischen Unterkunft haust, sieht sich Lizzie Dorons zum Verkauf stehende Wohnung an. Plötzlich zückt er sein Handy und zeigt ihr ein Video von der Trauerfeier seiner von Terroristen ermordeten Tochter: Sie war eine der Getöteten, für die Lizzie Doron, ohne sie zu kennen, einen Nachruf verfasst hat, um ihr viel zu kurzes Leben in wenigen Sätzen zu würdigen. Lizzie Doron kommen die Tränen, und auch als Leser, fernab im beschaulichen Berlin, muss man ziemlich schlucken.

Die Hoffnung auf Frieden hat Lizzie Doron inzwischen aufgegeben. Als ihre Lektorin aus Deutschland anruft und um versöhnliche Schluss-Worte für das Buch bittet, lehnt sie ab: "Ich habe keinen Epilog", schreibt sie, "alles, was mir in den Sinn kommt, sind Verwünschungen, sind Wut, Resignation und Schmerz. Was mir einfällt, sollte nicht niedergeschrieben werden. Es ist in keinster Weise politically correct."

Also schreibt sie vorerst im Verborgenen, nur für sich selbst. "In den wenigen Nächten, in denen es mir gelingt einzuschlafen“, sagt sie, "träume ich gelegentlich vom Frieden, von Brüderlichkeit und Gleichheit. Dann wache ich auf." Was ihr nach dem Aufwachen durch den Kopf geht, sagt sie nicht, aber es dürfte von einem Israel handeln, das in einer Endlosschleife der Gewalt gefangen ist und niemals Frieden finden wird mit Nachbarn, die dem jüdischen Staat das Existenzrecht absprechen und ihn ein für alle Mal auslöschen wollen.

Frank Dietschreit, radio3

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