Roman - Rachel Kushner: "See der Schöpfung"
Ökoaktivisten, eine Spionin und Neandertaler – das sind die Zutaten im neuen Roman von Rachel Kushner: "See der Schöpfung". Im vergangenen Jahr war die US-Amerikanerin damit für den Booker Prize nominiert. Das Buch sei ein unwiderstehlicher Page-Turner, elektrisierend und humorvoll, höchste Kunst – so die Jury. In „See der Schöpfung“ geht es um nicht weniger als um den Ursprung und das Wesen der Menschheit, verpackt in eine Spionagegeschichte in der französischen Provinz.
Ein Spionageroman von Rachel Kushner – das überrascht nur auf den ersten Blick. Denn "See der Schöpfung" hat zwar eine Spionin als Hauptfigur, aber eine ganz klassische Agentengeschichte ist es trotzdem nicht. Im Gegenteil: Im Kern hat der Roman vieles mit seinen Vorgängern "Flammenwerfer" (2015) und "Ich bin ein Schicksal" (2019) gemeinsam. Eine eigenwillige, starke Frauenfigur und die ganz großen existenziellen Fragen im Gepäck.
Undercover bei Umweltaktivisten
Kushner erzählt die Geschichte von Sadie, die nach einem missglückten Einsatz von der CIA gefeuert wurde und nun verdeckt für dubiose Auftraggeber aus dem Wirtschafts- und Privatsektor arbeitet.Ihr neuester Auftrag führt Sadie nach Südwestfrankreich in die Provinz.
Hier soll sie eine Gruppe von Umweltaktivisten unterwandern. Die Kommune rund um den charismatischen Anführer Pascal hat dem Kapitalismus und dem Leben in den Städten abgeschworen, versorgt sich weitgehend selbst und hilft dabei auch mit, dörfliche Strukturen wieder aufzubauen. So weit, so sympathisch. Aber Sadies Auftraggeber – wer genau diese sind bleibt sowohl der Leserschaft als auch der Protagonistin unklar – verdächtigen die Gruppe der Sabotage und befürchten einen Anschlag auf die gigantischen Wasserbassins, die gerade in der Region für die industrielle Landwirtschaft gebaut werden und die Grundwasserversorgung gefährden.
Sadie fädelt eine Liebesbeziehung zu Pascals bestem Freund ein, der nicht Teil der Kommune ist, und gewinnt das Vertrauen des Aktivisten. Ein packender Spionageplot, dem aber noch eine weitere Ebene hinzugefügt wird.
E-Mails aus der Urzeit-Höhle
Sadie hackt sich in die E-Mail-Korrespondenz zwischen Pascal und einem Mann namens Bruno Lacombe, ein Alt-68er, der von der Welt genug hat und seit Jahrzehnten zurückgezogen in einer Urzeit-Höhle weit ab der Zivilisation lebt. Durch die E-Mails hält er Kontakt zu den Aktivisten, die ebenso wie er auf der Suche nach einer alternativen Lebensart sind. Er ist so etwas wie ihr Inspirationsgeber und Vordenker. In seinen Nachrichten philosophiert er lang und breit über Ursprung und Wesen der Gattung Mensch. Die zentralen Sätze des Romans, die angesichts der rasanten politischen Entwicklungen und Kriege brisant und aktuell wirken:
"Aktuell, schrieb er, steuern wir in einem funkelnden, führerlosen Wagen auf die Auslöschung zu, und die Frage ist: Wie steigen wir da aus?"
Sadie stellt sich beim Lesen dieser Zeilen einen behelmten Fahrer in einem feuerfesten Anzug vor, der aus einem brennenden "Fuel Dragster" fliegt und sich mehrfach überschlägt, bevor auf der Strecke aufschäumendes Feuerschutzmittel versprüht wird.
Der spöttische Blick verändert sich
Das ist eine große Stärke des Romans, immer wieder mit Witz Distanz einzunehmen und der Ernsthaftigkeit des abgeschiedenen Denkers den abgebrühten und zunächst spöttischen Blick der Agentin entgegenzusetzen. Wobei sich langsam und ganz allmählich bei Sadie ein innerer Wandel zu vollziehen scheint. Schaute sie anfangs skrupellos und arrogant auf die Ideale und Überzeugungen der Ökokommune und ihres Vordenkers herab, muss sie bald zugeben, dass sie sich Lacombe auf eigenartige Weise verbunden fühlt.
"Aber wenn wir auf dem Planeten Erde allesamt in diesem funkelnden, führerlosen Wagen sitzen, woraus würden wir dann aussteigen, abgesehen von der Wirklichkeit? Wohin würden wir fliegen, wenn nicht in eine Leere hinein?"
Die Zukunft neu denken von der Vergangenheit her
Wie schaffen wir es, eine andere Realität zu denken? Ist das überhaupt möglich während man schon im führerlosen Wagen sitzt?
Bruno Lacombe denkt die Zukunft neu, ausgehend von der Vergangenheit her. Die Neandertaler kommen ins Spiel, die für ihn die besseren Menschen waren. Im Homo Sapiens dagegen will er die Wurzel allen Übels erkannt haben.
So merkwürdig einem der Exkurs zu den Ur-Menschen zunächst vorkommt, wird man doch immer mehr in den Bann gezogen von dieser Geschichte, die durch die zwei Ebenen die ganz großen Fragen verhandeln kann: Was ist das Wesen der Menschheit, wie tief ist Gewalt und ihr Ursprung in unserer DNA gespeichert, wie beeinflussen uns Traumata - der Holocaust spielt, verankert in der Familiengeschichte Lacombes, auch noch eine Rolle.
Es leuchtet, sprüht und funkelt
Trotzdem ist dieser Roman nicht überfrachtet oder sperrig. Im Gegenteil. Rachel Kushner schafft es, eine unterhaltsame Spionagegeschichte mit einer Aussteigergeschichte und philosophischen Grundsatzüberlegungen elegant und humorvoll zu verknüpfen. Die Sprache leuchtet, sprüht und funkelt dabei und ist voller Farben und Bilder. Dieser Roman ist ein ganz großartiges Erlebnis.
Nadine Kreuzahler, radio3