Drama | Berlinale Wettbewerb - "Mé el Aïn" ("Who Do I Belong To")
Zwei Söhne einer tunesischen Hirtenfamilie schließen sich dem IS in Syrien an, nur einer kehrt lebend in sein Dorf zurück. Statt des toten Bruders hat er eine mysteriöse schwangere Frau mit dabei. Meryam Joobeurs Familiendrama schildert die Schrecken des Terrors mit wenigen Worten und vielsagenden Blicken.
Eine Familie in einem kleinen Dorf im Norden von Tunesien: Mehdi (Malek Mechergui) und Amine (Chaker Mechergui) haben sich gegen den Willen ihrer Eltern dem IS angeschlossen und sind nach Syrien in den Krieg gezogen. In die Angst von Mutter Aicha (Salha Nasraoui) und Vater Brahim (Mohamed Hassine Grayaa) um ihre Söhne mischt sich die Scham darüber, dass sie ihren Weg in den Terror nicht verhindern konnten. Sollten sie lebend wieder zurückkommen, droht ihnen in Tunesien ein langer Gefängnisaufenthalt.
Die langen Schatten des Terrors
Mit wenigen Worten und knappen, symbolhaft aufgeladenen Bildern erzählt Meryam Joobeur in ihrem Langfilm-Debüt von den langen Schatten des Terrors und von zwei Menschen, deren Liebe zu ihren Kindern auf eine harte Probe gestellt wird. Dabei nimmt sie die Fäden ihres mehrfach preisgekrönten Kurzfilms "Brotherhood" wieder auf, der 2018 für den Oscar nominiert wurde und der sich ebenfalls mit den Auswirkungen des Syrien-Kriegs auf Tunesien beschäftigt.
Die Lage spitzt sich zu
Als Mehdi nach einigen Monaten aus Syrien zurückkehrt, bringt er die Nachricht vom Tod des jüngeren Bruders mit - und eine mysteriöse Schwangere: Von Reem (Dea Liane) sieht man allerdings nur die Augen, weil sie in einen Nikab gehüllt ist. Sprechen will sie nicht.
Da die beiden Neuankömmlinge das Haus aus Angst vor der Polizei nicht verlassen können, spitzt sich die Lage immer weiter zu. Adam (Rayene Mechergui), der jüngste Sohn der Familie, hat Angst vor der fremden Frau, Vater und Mutter streiten sich - und auch im Dorf passieren auf einmal unheimliche Dinge: Ein Schaf wird erschlagen, mehrere Männer sind verschwunden und Aicha leidet unter schrecklichen Albträumen. Als Reem schließlich ein totes Kind zur Welt bringt, läuft die Situation endgültig aus dem Ruder.
Präzise Dialoge und überzeugende Bilder
In drei Kapiteln erzählt "Mé el Aïn" davon, wie die Erinnerung an Terror und Gewalt den Menschen zusetzt. Wie sie zunächst eine Familie von innen aushöhlt und schließlich eine ganze Dorfgemeinschaft buchstäblich in den Abgrund reißt. Dabei überzeugen nicht nur die präzisen Dialoge, sondern auch die Bilder von Vincent Gonneville. Der französische Chef-Kameramann verzichtet fast gänzlich auf große Panoramen und arbeitet stattdessen viel mit Standbildern und Großaufnahmen. Lange bleibt sein Objektiv auf den Gesichtern der Schauspieler stehen, während sich in ihren Augen Angst und Trauer spiegeln und - bei Reem - der Wunsch nach Rache.
Unbedingt bärenwürdig
Fünf Jahre lang hat Meryam Joobeur an ihrem Debütfilm gearbeitet und dabei auf ein gemischtes Ensemble aus professionellen Schauspielern und Laien gesetzt. Die drei Brüder Mehdi, Amine und Adam etwa sind tatsächlich Mitglied einer tunesischen Hirtenfamilie und auch viele der Dorfbewohner wurden vor Ort gecastet. Salha Nasraoui dagegen ist eine bekannte Theaterschauspielerin, die hier auch auf der Leinwand eine beeindruckende Leistung zeigt. Wie sie als Mutter gegen alle Widerstände an der Liebe zu ihren Kindern festhält, ist mitreißend und unbedingt bärenwürdig.
Keine leichte Kost
"Mé el Aïn" ist keine leichte Kost. Was hier - fast nur über Blicke und sparsame Dialoge - über die Gräuel des Krieges erzählt wird, ist eindrücklicher als alle Schlachten-Epen. Ein Film, den man nicht so schnell wieder aus dem Kopf bekommt.
Carsten Beyer, rbbKultur