Um sein Leben schreiben - Rüdiger Safranski: "Kafka"
Auf den Texten Franz Kafkas, so sagte Susan Sontag einmal, habe sich eine "dicke Kruste von Interpretationen abgelagert". Seit der ersten umfassenden biografischen Deutung im Jahr 1937 durch seinen Freund und Nachlassverwalter Max Brod ("Franz Kafka. Eine Biographie") haben sich unzählige Stimmen zu Kafkas Leben und seinem Werk erhoben, u.a. von Paul Auster, Louis Begley, Elias Canetti oder Hanns Zischler, und Zeichner:innen wie Chantal Montellier, Robert Crumb oder Nicolas Mahler haben sich dem Autor auch in Comicform genähert.
Mit seinem Buch "Kafka. Um sein Leben schreiben" trägt nun auch der Monographie-Meister Rüdiger Safranski, der u.a. Bücher über Goethe, Hölderlin, Nietzsche und E.T.A. Hoffmann geschrieben hat, dazu bei, dass die "Kruste von Interpretationen" wächst. Doch sein Zugang fügt nicht einfach eine weitere Schicht hinzu, sondern wirft einen fokussierten Blick. Er verfolge, so stellt Safranski in der Vorbemerkung klar, "die eigentlich naheliegende" Spur in Kafkas Leben: "das Schreiben selbst und sein Kampf darum". Denn, so der vielzitierte Satz Kafkas aus einem Brief an seine Geliebte Felice Bauer: "Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur. Ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein."
Schreiben – um zu leben
Unter den biografischen Annäherungen an Kafka bleibt die dreibändige Biografie von Reiner Stach unumstritten das Meisterstück. "Um sein Leben schreiben" will es damit aber gar nicht aufnehmen. Es geht Safranski darum, in kompakter Form ein Leben darzustellen, das sich um das Schreiben herum gestaltete - "Ich habe nicht gelebt, ich habe nur geschrieben", notierte Kafka. Der enge Fokus auf die Wechselwirkung von Schreiben und Leben ermöglicht es Safranski, auf nur 250 Seiten entlang prägender biografischer Stationen herauszuarbeiten, dass Kafka "einem Leben jenseits der Literatur keinen Reiz abgewinnen kann".
Ein Beispiel: Als er um Felice Bauer warb, fühlte er sich nur deshalb stark genug dafür, weil ihm das Schreiben in jener Zeit gerade gelungen war. Schreiben war für Kafka Energiequelle, Lebenselixier, die Basis von allem. Sehr genau arbeitet Safranski dabei die Unvereinbarkeit heraus: Kafka brauchte das Leben, die Welt, die Frauen, um zu schreiben, gerade das Gefühl der Grundeinsamkeit inspirierte ihn. Gleichzeitig war ihm das Außen schnell zu viel, er schätzte das Alleinsein, den Rückzug, um ungestört schreiben zu können. Sinnbildlich wird diese Ambivalenz zum Beispiel in der Beziehung mit Felice Bauer: Zwei Mal verloben sie sich, zwei Mal trennen sie sich wieder, und auf einer Postkarte an sie im März 1913 schreibt er: "Noch immer unentschieden. Franz."
Schreiben – bis zum Schluss
Tagsüber saß er im Büro in der Arbeiterunfall-Versicherung, abends schreibend am Schreibtisch. Ein Doppelleben. Die Stelle, mit der er sein Geld verdiente, hatte er auch deshalb angenommen, weil er ab 14 Uhr frei hatte. Er lebte für die Literatur, doch lebte nicht von ihr. Vieles blieb Fragment, die Romane "Das Schloss", "Der Verschollene" und "Der Prozess" zum Beispiel, denn in Kafkas Schreibwerkstatt gab es laut Safranski kein Konzept, keine Gliederung, kein Exposé: "Korrigiert wird nur sofort, im unmittelbaren Schreibfluss".
Erst in seiner letzten Liebesbeziehung mit Dora Diamant, mit der er sogar den Umzug nach Berlin wagte, gelang ihm, was vorher offenbar undenkbar gewesen war: in der Gegenwart einer Frau zu schreiben. Er schrieb, so lange es ging, noch einen Tag vor seinem Tod 1924 korrigierte er die Druckfahnen des "Hungerkünstler"- Bandes.
Ein Buch sowohl für Kafka-Neueinsteiger:innen als auch für Kafka-Belesene – besonders lesenswert sind Safranskis persönliche Annäherungen an u.a. "Das Urteil", "Das Schloss" und den Erzählungen "Der Bau" und "Josefine, die Sängerin". Ein gut lesbarer und gleichzeitig gehaltvoller Beitrag zum Kafka-Jubiläumsjahr.
Anne-Dore Krohn, rbbKultur