Philharmonie Berlin - Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach
Die Wirkung der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach ist nach wie vor ungebrochen – der Publikumszuspruch ebenfalls. Selbst hinter der Bühne der Philharmonie und damit hinter den Sängerinnen und Sängern waren die Plätze belegt. Um das interessierte Konzertpublikum muss man sich keine Sorgen machen.
Was macht Bachs Johannes-Passion so einzigartig? Sicher die Form mit ihrer genialen Architektur. Wie etwa Bach den Komplex mit Verhör, Folter und Kreuzigung Jesu symmetrisch um einen Choral anordnet – das konnte so halt nur Bach.
Darüber hinaus prallen extremste Emotionen aufeinander, natürlich Trauer und Trost, aber diese Passion hat vor allem die Funktion der Verherrlichung. Schon der Eingangschor, mit schärfsten Dissonanzen gezeichnet, beginnt mit "Herr, unser Herrscher". Und in der Stunde des Todes Jesu ist vom Helden die Rede. Niedergeschlagenheit und Triumph – und auch alles dazwischen – finden sich auf engstem Raum. Dem kann man sich kaum entziehen.
Erschütternd grandios
Wenn der RIAS Kammerchor sich dieses Werkes annimmt, darf man Transparenz und Textverständlichkeit voraussetzen. Aber dabei bleibt es nicht. Chefdirigent Justin Doyle packt das Stück bei den Hörnern, nimmt gerade das Emotionale ernst, indem er es differenziert.
Gleich der Eingangschor. Den hört man oft wuchtig, mächtig und scharf. So auch hier, aber wie der dreimalige Ausruf "Herr!" zunächst beim dritten Mal ganz zurückgenommen erscheint wie im Zweifel oder mit Fragezeichen, dann aber bei der Wiederholung des Hauptteils so herausgeschleudert wird, dass man das Bedürfnis hat, in Deckung zu gehen, ist absolut einzigartig.
Justin Doyle versteht es, die großen Gefühle auszukosten, aber er weiß, dass er dafür auch dosieren muss, und das hat er bis ins Kleinste ausformuliert. Die größte Pracht hat er sich für den allerletzten Schluss aufgehoben, die gibt es am Ende des Schlusschorals, aber eben auch wirklich erst dann. Das ist Gestaltung der Spitzenklasse, das hat man selten so erschütternd grandios gehört.
Das kaum noch Erzählbare
Solistisch war es ein wenig durchwachsen, da erwachten einige der Sängerinnen und Sänger erst im zweiten Teil zu besserer Präsenz. Musste man sich erst an den großen Saal gewöhnen oder wirkte der Abend zuvor in Paris mit langer Rückreise noch nach? Von Beginn an durchaus sonor und erfreulich präsent und klangschön war der Bass von Matthias Winckhler.
Die gestalterischen Höhepunkte kamen dann aber ganz von Florian Sievers als Evangelist. Am Beginn schilderte er die Handlung noch relativ beherrscht und gewissermaßen von außen betrachtend, wirkte dann jedoch immer mehr selbst hineingezogen und ließ sich von seinen Emotionen hinreißen. Das wurde immer mehr zur Reportage, überwältigt vom kaum noch Erzählbaren. Eine beeindruckende Gestaltungskraft, da hat man immer wieder den Atem anhalten müssen, so bewegend war das geschildert und durchlebt.
Spitzenensemble mit Spitzensoli
Für eine solche Aufführung kann man die Akademie für Alte Musik Berlin blind buchen, kompetenter geht es kaum, und das Originalklangensemble präsentierte sich denn auch entsprechend selbstbewusst mit vollem Klang. Vor allem aber konnten sich die vielen wunderbaren Solistinnen und Solisten des Ensembles präsentieren, und das in den Arien.
Denn die Arien sind in Wirklichkeit Duette oder Terzette – äußerlich gut präsentiert, wenn auch die Beteiligten der Akamus im Stehen spielten. Da waren die Affekte bereits klar formuliert, noch bevor auch nur ein Ton gesungen wurde.
Berührender Höhepunkt war das Gambensolo von Lea Rahel Bader in der Arie „Es ist vollbracht“, das sogar mehr berührte als die Gesangsstimme. Das hat den Trauergestus voll getroffen, da hätte man hemmungslos losheulen können, so bewegend war das.
Ein Abend, der in Erinnerung bleibt
Dass es am Ende viel Beifall und Jubel gab, überrascht nicht. Bemerkenswert war die sekundenlange Stille nach dem letzten Akkord. Da wurde deutlich: Das wirkt lange nach, und es ist ein Abend, den man nicht so bald vergisst.
Andreas Göbel, rbbKultur