Pierre Boulez Saal - Klavierabend mit Leif Ove Andsnes
Seit mehreren Jahrzehnten ist der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes einer der erfolgreichsten Pianisten überhaupt. Jetzt hat er im Berliner Pierre Boulez Saal sein Solo-Debüt gegeben und mit Geirr Tveitt einen hierzulande ziemlich unbekannten Komponisten ins Zentrum gerückt.
Geirr Tveitt, so Leif Ove Andsnes in seiner kurzen Einführung, ist in Norwegen kein Unbekannter – vor allem durch seine Arbeit mit norwegischer Folklore, aus der er einige Suiten zusammengestellt hat. Tveitt war ein sehr produktiver Komponist, musste dann aber erleben, wie achtzig Prozent seiner Manuskripte durch einen Brand in seinem Landhaus unrettbar vernichtet wurden. Ein entsetzlich tragisches Schicksal.
Ein bisschen Prokofjew
Eine gewisse Nähe zu Sergej Prokofjew, wie von Leif Ove Andsnes erwähnt, gibt es in der Musik von Geirr Tveitt durchaus. Das hat etwas Motorisches und Kantiges. Technisch ist die Sonate Nr. 29 extrem anspruchsvoll. Ein paar faszinierende Effekte gibt es, etwa wenn der Pianist den linken Unterarm auf die tiefen Tasten legt, sie stumm herunterdrückt und die dadurch ungedämpften Saiten mitklingen lässt – ein schöner Halleffekt.
Idealer Interpret
Wer nach Aufnahmen dieser Sonate im Netz sucht, findet nur minderwertige Qualität. Da ist hingegen Leif Ove Andsnes ein idealer Interpret für diese Musik. Wie er die unglaubliche Dynamik dieser Musik ernst nimmt, aber auch die melodischen Momente einfängt und sogar ein bisschen Eleganz hineinbringt, ist meisterlich.
Andsnes spielt die Kontraste dieser Musik souverän aus. Sicher, das ist mit über einer halben Stunde Aufführungsdauer ein ziemlicher Brocken, und man fühlt sich hinterher wie nach einer Nacht auf einer harten Matratze, aber spannend ist das schon, eine solch eigenwillige musikalische Handschrift auf diesem hohen Niveau präsentiert bekommen zu haben.
Kamillentee gegen Hölle
Franz Schuberts a-Moll-Sonate D 784 ist auf andere Weise ein extremes Werk. Da gibt es eine Fahlheit, komplett grau in grau, dazu verzweifelte Ausbrüche, aber auch warme Momente der Hoffnung, die dann jedoch sofort wieder zerstört werden. Das geht an die Nerven – eigentlich.
Warum nur spielt Leif Ove Andsnes das so ausgeglichen? Das ist solide, musikalisch stimmt alles. Aber wo die Hölle ihren Schlund aufreißt, gießt er Kamillentee ein. Das klingt, als wenn das vom Ordnungsamt abgenommen wäre. Ein komplettes Missverständnis.
Nördlich vom Polarkreis
Und bei Johannes Brahms? Da lässt sich der Komponist in seinen Fantasien, gut verborgen hinter allem streng Konstruierten, dann doch ziemlich tief in die Seele blicken.
Und Leif Ove Andsnes spielt hier wieder nur die Strukturen, zu hastig, sicher mit grandioser Technik, aber so emotionsarm und kalt, als wenn Brahms keine Fantasien, sondern seine Steuererklärung komponiert hätte.
Leif Ove Andsnes ist ein überragender Pianist, wenn es darum geht, die Architektur der Musik aufzuzeigen und weiter zu formen. Die Gefühlsebene wirkt jedoch so unterkühlt, als wenn sie geradewegs nördlich vom Polarkreis kommt.
Andreas Göbel, rbbKultur