Philharmonie Berlin - Christian Thielemann dirigiert die Berliner Philharmoniker
In diesem Jahr wird der 200. Geburtstag von Anton Bruckner begangen – und Christian Thielemann, der derzeit beste Bruckner-Dirigent überhaupt, setzt bei seinem Konzert mit den Berliner Philharmonikern zwei Sinfonien des Komponisten auf das Programm, die nicht zum Kanon der großen 9 Sinfonien gehören und die man fast nie hört.
Da gibt es eine Studiensinfonie in f-Moll, mit der sich Bruckner an die Form der großen Sinfonie herantastet, wo manches auch schon sehr nach dem späteren Bruckner klingt, die aber doch in weiten Teilen recht konventionell bleibt.
Und eine Sinfonie in d-Moll, die ganz aus der Struktur lebt, ohne greifbare Themen oder Melodien auskommt, und bei der Bruckner gemerkt hat, dass das nicht sein eigentlicher Weg ist und die er, obwohl komplett fertig komponiert, verworfen hat.
Bruckners Werkstatt
Christian Thielemann hat vor Kurzem alle Bruckner-Sinfonien auf CD herausgebracht, passend zum Bruckner-Jahr anlässlich des 200. Geburtstags des Komponisten. Und da muss es ihn wohl gereizt haben, nicht nur die kanonisierten neun Sinfonien aufzunehmen, sondern auch diese beiden schwarzen Schafe.
Das ist natürlich spannend, in die Werkstatt Bruckners zu blicken: Wie ist er das geworden, was er geworden ist? Wie hat er experimentiert, was ausprobiert und was ist ihm durchaus auch misslungen, wenigstens aus eigener Perspektive?
Bruckners Experimente
Die Studiensinfonie in f-Moll ist noch ein ziemliches Herantasten, man hört das Talent, da will jemand für großes Orchester schreiben, aber es bewegt sich zwischen Konventionellem und dem Wuchtigen, wofür Bruckner später bekannt werden würde. Das ist ein Experimentierstadium, und wenn da nicht der Name des Komponisten stehen würde, hätte man das vielleicht doch zum Altpapier getan.
Gute fünf Jahre später hört man in einer d-Moll-Sinfonie schon mehr den typischen Bruckner-Klang, die statische Herbheit, das dämonisch Düstere. Aber es ist nur der Klang. Bruckner formt Strukturen, aber es hat keinen Inhalt. Das ist aus heutiger Sicht radikal, aber nicht der Weg, den der Komponist beschreiten wollte. Also, so Bruckner: weg damit!
Anwalt der Musik
Christian Thielemann glaubt an diese Werke. Er nimmt sie nicht als Leichtgewichte, als Funde im Mülleimer Bruckners. Er nimmt diese Musik ernst, dirigiert sie auswendig, und er versteht sich als Anwalt dieser Stücke.
Und so fächert er die Struktur auf, durchleuchtet sie, wie immer bei ihm, ins Kleinste. Und er glaubt an den Wert dieser Stücke. Jedes Motiv ist gewissermaßen mit dem Staubtuch geputzt, und auch den Klangmeister weiß Thielemann hervorzuzaubern. Bruckner wäre glücklich, wenn er hätte hören können, wie Thielemann über die Schwächen dieser beiden Sinfonien liebevoll hinwegdirigiert.
Philharmoniker-Hochgenuss
Und die Berliner Philharmoniker? Die kennt Thielemann seit vielen Jahren, und da stellt sich sofort der vertraute Klang ein. Was Bruckners Versuche an Klangfülle zu bieten haben, enthüllt sich hier. Da sind erfüllte Pausen, präzise Schärfe und eine Brillanz, wie man sie von diesem Orchester nicht anders kennt.
Und man glaubt dann doch, Melodien zu finden. Wenn Solo-Oboist Albrecht Mayer auf seinem wundervollen Instrument im langsamen Satz der d-Moll-Sinfonie sein Solo spielt, ist das ergreifend und ein absoluter Hochgenuss. Und so findet man das Orchester, bei aller Mäkelei über die Werke, auf Hochglanzniveau, wie immer, wenn Christian Thielemann am Pult dieses Orchesters steht.
Kein Repertoire
Bei aller Freude über diesen Abend und bei allem faszinierten Mitverfolgen, wie Anton Bruckner sich mittels dieser Versuche zum Giganten der romantischen Sinfonik geformt hat: das sind - und das ist hier deutlich geworden - keine vollgültigen Werke des Komponisten.
Man kann sie als Dummys interpretieren, die wertvoll sind, weil Bruckner aus ihnen unschätzbare Erfahrungen gezogen hat. Damit aber haben sie ihren Nutzen erfüllt. Dass Christian Thielemann daraus mehr gemacht hat als drinsteckt, verwundert nicht – schließlich ist er derzeit der weltbeste Bruckner-Dirigent. Aber das ist eben auch die Ausnahme.
Andreas Göbel, rbbKultur