Valentin Groebner: Aufheben. Wegwerfen; Montage: rbbKultur
Bild: Konstanz University Press

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats April 2023

Unsere Frühjahrsliste zeigt deutlich das Bedürfnis unserer Jury, neben den harten Wirklichkeiten der Gegenwart auch die eher beschaulichen Aspekte der Kultur in den Blick zu nehmen. So mischen sich diesmal Sachbücher über Russland und Putin mit solchen über unseren Umgang mit den "schönen Dingen", einer Allerweltsgeste mit tieferer Bedeutung sowie bedeutenden Gestalten der Literaturgeschichte.

Was die Sachbuchliste eint, ist der erfolgreiche Versuch, mehr oder minder bekannte Tatsachen oder Biografien oder literarische Produktionen neu in den Blick zu nehmen und zu deuten. "Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen" schreibt etwa die englische Kulturhistorikerin Janina Ramirez in ihrem Buch "Femina". Wenn man nur mit unverstelltem Blick hinsieht, dann entdeckt man eben weibliche Entscheidungsträgerinnen und Kriegerinnen, Künstlerinnen und "Influencerinnen", wo sonst immer nur die Männer im Mittelpunkt standen – und wünscht sich mehr solcher Blicke auf den weiblichen Anteil der Geschichte.

Zum "Erfinder der modernen deutschen Literatur" wird Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) durch die neue Biografie – die erste seit 70 Jahren – von Jan Philipp Reemtsma, indem er das "starre Schema" (S. 18), in dem die Germanistik bis heute befangen sei – Mittelalter, Barock, Frühe Neuzeit, Weimarer Klassik, Romantik etc. – aufbricht und den Dichter Wieland vom Stigma des unzeitgemäß Gewordenen befreit.

Thomas Mann, der Zauberer

Dass man das Werk Thomas Manns nach der Lektüre von Hanjo Kestings "Thomas Mann" in vieler Hinsicht neu und besser lesen kann, nämlich als das abgründige Leben und Werk zwischen äußerem Glanz und innerer Qual, als das eines "Zauberers", wie Mann ja auch genannt wurde, macht diese Biografie zu einem besonderen Erlebnis und intellektuellem Vergnügen.

Und wir verstehen, wie schmerzhaft und kreativ zugleich die Spannung dieses Doppellebens war, "worin die Sphäre des Bürgers von der des Künstlers streng getrennt war" (S. 311). "Bestürzt blickt man", so Kesting, "in die Abgründe eines bürgerlichen Künstlerdaseins, dem es gelang, einem Minimum an real erfahrenem Lebensglück ein Maximum an künstlerischer Leistung und Vollendung abzugewinnen" (S. 314).

Das bedrohlichste Regime der Welt

"Geschichtsklitterung" nannte man früher das, was der Autor des Buches "Revanche", Michael Thumann, "eine unerträgliche Verdrehung historischer Tatsachen" nennt: das Treffen der Präsidenten Russlands, der Ukraine und des Staatsoberhaupts von Belarus im Jagdschloss von Wiskuli im Wald von Belowesch. Dort wurde am 8. Dezember 1991 ein Abkommen unterzeichnet, das zur formellen Auflösung der UdSSR führte.

Im heutigen Russland und speziell im Umfeld des Kreml gilt dieser Akt als die Belowesche Verschwörung, als Staatsstreich. Dies ist der Kern, um den sich wohl auch Wladimir Putins Theorie von der größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts dreht. Daraus ergibt sich dann auch die Einschätzung der Jelzin-Jahre als "Zerfall, Chaos und Kriminalität" (S. 70), übrigens nicht nur in Russland, sondern auch hierzulande. Die 1990er Jahre, zitiert Thumann Ex-Kanzler Gerhard Schröder, seien "geprägt von Ausplünderung, Korruption und Chaos" (S. 71).

Stufe um Stufe zeichnet Thumann die Maßnahmen nach, durch die Putin, seine Elite und schließlich das Militär zu eben dem bedrohlichsten Regime der Welt geworden ist, als das es sich heute darstellt. Putin sucht Revanche für vermeintlich erlittenes Unrecht. Anschaulich lässt Thumann uns aber auch nachvollziehen, wie Putins Propaganda in Russland wirkt, wie die Menschen "Russlands Absturz in eine zunehmend totalitäre Diktatur" (Klappentext) erleben.

Die Ratlosigkeit, die viele Beobachter Russlands in Deutschland erfasst, nimmt die Hamburger Philosophin Bettina Stangneth, zum Anlass, unser Verhältnis zu Putin zu hinterfragen. Und sie zeigt: Wir tun uns schwer mit Putins Russland, weil wir uns schwer tun mit uns selber, unserer Geschichte und dem Denken darüber – eine leichte "Überforderung" stellt dieses Denken dar.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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