Nikolai Epplée: Die unbequeme Vergangenheit; Montage: rbbKultur
Bild: Suhrkamp Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats August 2023

Wer das für deutsche Leser verfasste Vorwort von Nikolai Epplée seines Buches "Die unbequeme Vergangenheit" liest und sich dann an die Lektüre des Buches macht, ist womöglich erstaunt, dass dieses Buch in Russland überhaupt hat erscheinen können – von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren wurde es auf Platz 1 unserer Sachbuchliste gewählt.

Ziemlich schonungslos stellt der in Russland lebende Publizist Nikolai Epplée die "Staatsverbrechen in Russland und anderswo" dar, jene Verbrechen des Stalinismus mithin, die in Russland nicht nur verschwiegen werden, sondern eigentlich gar nicht mehr in Erinnerung gerufen werden dürfen, siehe das Verbot von "Memorial".

Den Ukraine-Krieg nennt er eine "Katastrophe" und über Russland schreibt er: "Die Russen sind nicht länger eine Nation, die die Welt vom Nazismus befreit hat. Wir sind jetzt die Nation, die die Befreiung der Welt vom Nazismus zum Ausgangspunkt einer Entwicklung gemacht hat, an deren Ende ein Regime steht, das einen neuen Krieg in Europa entfesselt hat" (S. 9). Und er folgert, "dass es sich bei der gegenwärtigen Tragödie um einen Krieg der untoten Sowjetunion gegen die Ukraine und gegen das nicht-sowjetische Russland handelt" (S. 12).

Epplée betrachtet das Scheitern der Bewältigung des stalinistischen Terrors in Russland und vergleicht es mit der Vergangenheitsbewältigung, wie sie u.a. in Japan, Spanien und Deutschland mit deutlich größerem Anteil an demokratischen Entwicklungen vollzogen worden ist. Entscheidend für alle Aufarbeitungsprozesse ist ein intaktes Verhältnis zwischen Erinnerung und Versöhnung – und dafür braucht es demokratische Verhältnisse. Für Russland empfiehlt Epplée als "Instrument der Versöhnung … eine der Situation in Russland angepasste Wahrheits- und Versöhnungskommission" (S. 567). Auf die wird man wohl noch lange warten müssen.

Blick in die Geschichte

In einem Land, das gerade den Versuch macht, alte imperiale Macht durch Gewalt zurückzubekommen, dürfte eine solche Kommission, deren Ziel ja die Wahrheit über die Verbrechen gerade dieses imperialistischen Staatsgebildes ist, kaum eine Chance haben. Dass indessen Putins Russland imperiale Größe und Macht zurückgewinnen will, ist offenkundig.

Ulrike von Hirschhausen / Jörn Leonhard: Empires; Montage: rbbKultur
Bild: C.H. Beck Verlag

Bestrebungen solcher Art gibt es global gesehen auch anderswo, man denke nur an China. "Die Begriffe Empire und Imperialismus sind allgegenwärtig geworden, wenn es darum geht, eine unübersichtliche, polyzentrische und multipolare Welt zu deuten" (S. 13), schreiben die Historikerin Ulrike von Hirschhausen und der Historiker Jörn Leonhardt in ihrer "globale(n) Geschichte 1780 – 1920", der sie den Titel "Empires" gegeben haben. Ihre Absicht ist es, eben auch mit diesem aus dem Englischen entlehnten Begriff, ihre spezielle neue Sicht auf imperiale Großorganisationen vom klassischen Imperien-Begriff abzuheben. Sie konzentrieren sich "auf die Entstehung, Erfahrung und den Umgang mit ethnischer Vielfalt als grundlegendem Kennzeichen von Empires" (S. 13).

Mit dieser Zuspitzung auf ethnische Vielfalt lassen sich im übrigen, wie mir scheint, unabhängig von dem gesetzten zeitlichen Rahmen des Buches (1780 – 1920), Gegenwartsfragen sinnvoll beantworten: Russland z.B. möchte nach dem Zerfall der Sowjetunion verloren gegangene Nationalitäten zurückholen, China muss sich zur Bildung seines Staatsvolkes mit 56 anerkannten und über 20 nicht anerkannten Nationaltäten bzw. Ethnien arrangieren. So erschließt uns der Blick in die Geschichte mustergültig die Gegenwart. Und das ist ja auch die Aufgabe der Geschichtswissenschaft.

Habbo Knoch: Im Namen der Würde; Montage: rbbKultur
Bild: Hanser Verlag

Die Würde des Menschen

Zum Schluss noch diese Bemerkung: Testfall für das Funktionieren von Empires sind, so Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhardt, Steuern: "Fast überall machten imperiale Regierungen die eroberte Bevölkerung zum Gegenstand der Besteuerung, um sie für ihre Unterwerfung selber zahlen zu lassen" (S. 36). Testfall für unsere "deutsche Geschichte" ist der Umgang mit dem § 1 unseres Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Wie damit umgegangen wurde und wird, das können Sie nachlesen in Habbo Knochs Buch "Im Namen der Würde" – eine Geschichte sehr unterschiedlicher Ziele.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

Sachbücher des Monats

Mehr

Sachbücher des Monats; © radio3/rbb
radio3/rbb

Die Sachbücher des Monats

Themen beleuchten, Probleme analysieren, Lösungen diskutieren: Sachbücher bieten in einer immer komplexeren Welt Orientierung – aber wer kennt schon die Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Büchermarkt? 24 namhafte Jurorinnen und Juroren aus Wissenschaft und Publizistik bewerten Monat für Monat neue Sachbücher nach Relevanz, Originalität und Lesbarkeit. Ihre Funde sammeln wir als "Sachbücher des Monats" und ergänzen sie durch die "Besondere Empfehlung" eines ausgewählten Lesers – eine Lesehilfe für ein interessiertes Publikum.