Florian Illies: Zauber der Stille; Montage: rbbKultur
Bild: S. Fischer Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Dezember 2023

Man muss den Untertitel des Buches von Floria Illies ernst nehmen: "Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeit", obwohl gar nicht so sehr der Maler Friedrich es ist, der durch die Zeit reist, sondern Illies selbst. "Zauber der Stille" wurde von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren im Dezember auf Platz 1 unserer Sachbuchliste gewählt.

Das ist ja Illies' Spezialität schon immer gewesen: Daten, historische Momente aufzuspießen und an ihnen entlang von Personen, Ereignissen, Augenfälligkeiten zu erzählen. Und so auch hier, wobei Illies als Strukturmerkmal die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft wählt, Elemente, die einerseits zu Friedrichs Malerei, andererseits aber auch zu den die "Reise" begleitenden Ereignissen passen.

So spannt Illies ein Netz aus räumlichen und zeitlichen Bezügen auf, in dem sich Friedrichs Leben und Werk verfängt. Und immer geht es dabei auch um die Wirkung, die Friedrichs Schaffen auf nachfolgende Künstler, Politiker – wie Adolf Hitler – und, ein besonderer Fall: Walt Disney, ausübt. Der hat sich wohl von Friedrichs romantischen Naturbildern beeinflussen lassen. Eine wahrlich überraschende "Reise durch die Zeiten" mit vielen Stationen.

Lorraine Daston: Regeln; Montage: rbbKultur

Geschichte der Regeln

Seit Roboter, Automaten, gar Künstliche Intelligenz in unser Leben eingreifen, stellt sich die Kernfrage, ob wir dem Automaten eher vertrauen als dem "gesunden Menschenverstand". Dieser gehört in die Rubrik der Ermessensentscheidung. Sie betrachtet man heute allerdings gerne als "bloß subjektiv". KI hingegen und Algorithmen – eigentlich ja seelenlose Regeln – gelten als rational und eben objektiv.

"Was im heutigen Jargon als 'Ermessensentscheidung' bezeichnet wird“, so Lorraine Daston in ihrer Geschichte der Regeln, "ist ein Urteil, das nicht in der öffentlichen Vernunft gründet und nur einen Schritt weit von privater Laune entfernt liegt" (S.26f). So war das nicht immer, und eben dies zeigt die Wissenschaftshistorikerin in ihrem bemerkenswerten Buch. Zwischen Universellem und Einzelnem klafft eine Lücke: "Ganze Spezialgebiete fachlicher Praxis … blühen in dieser Lücke: Billigkeit im Recht, Kasuistik in Theologie und Ethik, Fallgeschichten in der Medizin, Ermessen in der Verwaltung" (S. 27).

Mit anderen Worten: Regeln bestimmen unser Leben, oftmals mehr als es uns gefällt. Aber es gibt auch Gegenbewegungen. Täglich hören wir von Apellen, Vorschlägen und Absichten, Regeln zu vereinfachen bzw. zu verringern, um gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Abläufe zu beschleunigen. Vergeblich – Regeln haben offenbar die Tendenz zu wuchern und immer neue Neben- und Untersprossen zu treiben. Aber, Gottseidank, keine Regel ohne Ausnahme – dies zeigt uns die Autorin in ihrer kurzen, aber umso spannenderen Geschichte der Regeln.

Eva Menasse: Alles und nichts sagen; Montage: rbbKultur
Bild: Verlag Kiepenheuer & Witsch

Gefangen im Netz

Ebenso maßlos, wuchernd, unendlich geradezu wie die Regeln ist das Internet mit seiner sich ständig ausdehnenden Dimension. Wie soll man aus diesem Netz, fragt sich die Schriftstellerin Eva Menasse, noch befreien, kann man es überhaupt noch? Nein, man kann es nicht und ist gefangen in einer Art "Weltkommunikation" (S. 13), die zu nichts anderem als Überhitzung und Verzerrung führt.

Deshalb, so ihr Fazit: In einer Art Stresstest die digitale mit der analogen Welt konfrontieren und die Wahrheit hinter den unendlich vielen Meinungen suchen.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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