Thimothy Garton Ash: Europa; Montage: rbbKultur
Bild: Carl Hanser Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Juni 2023

Ein Blick zurück ist bei einem Historiker, zumal einem vom Schlage eines Timothy Garton Ash, immer auch ein Blick in die Zukunft. Und so wirft er einen sehr persönlichen und doch auch wissenschaftlich genauen Blick auf die Zeit zwischen zwei Kernereignissen seines Europas: auf "post war"- und auf "post wall"-Europa, was typisch englische und anschauliche Bezeichnungen für Schlüsselereignisse der europäischen Geschichte sind. – "Europa" und zehn weitere Sachbücher finden Sie auf der rbbKultur-Bestenliste.

Garton Ash ist ein Europa-Fan und jede seiner Begegnungen, Beobachtungen lässt uns eine große, berührende Sympathie für dieses heterogene, durch Geschichte und Mutwillen, bessere Einsicht und historische Notwendigkeit zusammengehaltene Gebilde spüren. So, wie Timothy Garton Ash Ereignisse und Personen Revue passieren lässt, Wendepunkte hervorhebt und Stimmungsschwankungen nachzeichnet, wird deutlich, wie groß die Herausforderungen sind, denen sich Europa gerade jetzt gegenüber sieht.

Was Frauen wirklich wollen

Lügen Statistiken? Manche glauben das, zumindest sind sie ihnen gegenüber sehr misstrauisch. So ergeht es dem Buch von Michael Schneider, der unzählige Daten über Frauen, weibliches Arbeiten und Leben ausgewertet hat und – so eine sehr kritische Rezension – dennoch die Kehrseite positiver Ergebnisse für das Leben von Frauen nicht wahrgenommen habe.

Wir haben das Buch dennoch auf unsere Sachbuchliste genommen, denn es stellt eben doch viele Fehlinformationen über das Leben von Frauen richtig. Bemerkenswert ist eine der Schlüsselaussagen des Buches: "Je freier Männer und Frauen werden, desto unterschiedlicher werden sie"(S. 13). Anders gesagt: Gesellschaften befinden sich in einem Dilemma: "Man kann Männer und Frauen … entweder unterstützen, zu leben, wie sie möchten, das wäre Gleichberechtigung. Oder man kann dafür sorgen, dass sie gleich leben, das wäre Gleichstellung. Beides gleichzeitig geht jedoch nicht" (S. 14).

Und daraus folgt: Frauen wollen sehr oft bei gleichen Bedingungen etwas anderes als Männer. Sie sind nicht benachteiligt, sondern haben eben nur andere Interessen und Wünsche. Feministinnen wird er mit seinem Buch nicht glücklich machen, denn er räumt mit sehr vielen feministisch geprägten Urteilen auf. Gender-Studien jedenfalls kommen hier nicht gut weg. Lässt sich also statistisch ermitteln, was Menschen, und in diesem besonderen Fall, Frauen, wirklich wollen in diesem Leben? Vorsicht also (besonders auf Seite 109, hier wird es wirklich hart): Das Buch hält allerlei Überraschungen bereit.

Konfuzius: Gespräche; Montage: rbbKultur
Bild: Verlag

Harmonie des Zusammenlebens

Mit dem aktuell zwischen Erstaunen, Erschrecken und Überraschung schwankenden Blick auf das neue, überwältigend starke, unberechenbar scheinende Wirtschafts-China geht immerhin auch ein neu erwachendes Interesse an dem intellektuellen China einher. Man sieht, wie sich in China die Grenzen zwischen Traditionsbewusstsein und -bewahrung auf der einen Seite, Traditionsvernichtung und -leugnung auf der anderen Seite entsprechend der jeweiligen inneren politischen Machtkonstellation verschieben: Mao war ein Traditionsvernichter, Xi ist wohl eher ein die Tradition nutzender Herrscher.

Und immer spielt die Lehre des Konfuzius (ca. 551 v. Chr. - 479 v. Chr.) eine entscheidende Rolle. Seine Lehre vom lebenslangen Lernen des Menschen und der Selbstdisziplin der Herrschenden führt in der chinesischen Vorstellung zu einem moralisches Handeln wertschätzenden Dasein. Zum Grundtext dieser philosophischen Lehre gehören die Gespräche des Konfuzius. Sie sind ein "Leitfaden der Menschenbildung", deutlich über China hinaus.

Der Sinologe Hans van Ess erschließt uns nun in seiner großartigen Neuübersetzung auch Schlüsselbegriffe des Konfuzius neu. Er bringt uns die ferne Geisteshaltung nah und zeigt uns zugleich, wie sich die Persönlichkeitsentwicklung hier von derjenigen dort unterscheidet. Es geht um die Harmonie des Zusammenlebens der Menschen – wie weit sind wir davon immer noch entfernt.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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