Volker Gerhardt: Individuum und Menschheit; Montage: rbbKultur
Bild: C.H. Beck

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Mai 2023

Eine Rückbesinnung auf die Ideale und Ursprünge unserer Staatskonzeption: die Demokratie. So viel verspricht – und hält – der Berliner Philosoph Volker Gerhardt mit seinem Buch "Individuum und Menschheit", und diese Rückbesinnung ist umso wichtiger, als gerade jetzt immer mehr autoritäre, undemokratische und auch diktatorische Kräfte an den Demokratien zehren. Dieses und zehn weitere Sachbücher finden Sie auf der rbbKultur-Bestenliste.

"So lange sie ein auskömmliches, möglichst berechenbares und Zukunftschancen bietendes Leben verspricht, … gehört der Demokratie die Zukunft. Und solange sie Erfolg hat, wird sie auch die besten Chancen haben, die Menschen überall auf der Welt für sich zu gewinnen" (S. 21) – so viel Optimismus verbreitet Volker Gerhardt in seinem Buch … aber leider kommt die kalte Dusche gleich hinterher: "Aber was ist, wenn die Rahmenbedingungen sich ändern? Wenn Naturkatastrophen, wirtschaftliche Krisen, Kriege, Terrorakte, Kriminalität oder Seuchen unerwartete Probleme schaffen, können die politischen Vorzüge der Demokratie rasch an Attraktivität verlieren. Dann schlägt die Stunde der Demagogen und Populisten und mit ihnen sind Rechtssicherheit und Freiheit dahin." (S.22)

In diesem Spannungsfeld befinden sich heute viele Gesellschaften, und es ist gut, sich der Ursprünge und Stärken demokratischer Verfassungen zu besinnen. Denn ohne das Bewusstsein für das Wesen der Demokratie lässt sie sich gegen ihre Feinde kaum verteidigen. Gerhardt führt uns geduldig durch die Höhen und Tiefen demokratischer Ideen und ihrer Verwirklichungen und zeigt uns: Die Idee der Demokratie muss immer neu gefunden und formuliert werden. Von selbst kommt sie nicht.

Das Ende ist offen

Die zentrale Frage in Zusammenhang mit Putins Überfall auf die Ukraine ist, aus Sicht des Züricher Philosophen Georg Kohler, diejenige nach der stärkeren Kraft: die der militärischen Gewalt oder die der politischen Vernunft. Was er liefert, ist ein anspruchsvoller Blick in die Tiefen utopischen Denkens (u.a. Thomas Morus "Utopia" spielt da eine erkenntnisleitende Rolle), ein Diskurs über Vernunft, Unvernunft und die Grenzen menschlichen Verhaltens.

"Es ist die Probe aufs Exempel, ob die Idee der politischen Vernunft – Einigung aus gemeinsamer Einsicht statt der Diktatur tödlicher Gewalt – auch unter den Bedingungen der Gegenwart nur eine schöne Utopie ist und keine wirkliche Möglichkeit darstellt". (S. 14) Kurz, es geht um die ewige und immer wiederkehrende Frage, ob das "Recht des Stärkeren" oder die Weisheit der Vernunft für die "Zukunft nach dem Ende der Geschichte", so der Untertitel des Buches, ausschlaggebend ist.

Leider weiß es auch der Philosoph nicht – das Ende ist offen, und wir alle sind aufgefordert, unser eigenes Urteil zu finden und unsere Teilnahme an den demokratischen Prozessen zu überdenken, am besten mit dem Ergebnis zum aktiven Bekenntnis zur Vernunft.

Asal Dardan u.a.: Canceln; Montage: rbbKultur
Bild: Carl Hanser Verlag

Erstaunliche Dinge zum Thema "Canceln"

Nun aber zur Vernunft im alltäglichen Sinne: Wie verhalten wir uns zu der aktuellen Diskussion um "richtige" und "falsche" Literatur, welche Position nehmen wir in der "Cancel-Kultur" ein, einer Bewegung, deren Grundbegriffe noch nicht einmal jeder Zeitgenosse kennt. "Woke" zum Beispiel. Was es auf sich hat in der gegenwärtigen "Empörungsbereitschaft als ganz natürliche Haltung" (Ijoma Mangold, S. 9), oder warum J. K. Rowling zu einem "Fall" der Cancel-Debatte wurde, all das und viele erstaunliche Dinge mehr kann man in dem Sammelband "Canceln" nachlesen.

Es lohnt sich, und bitte, jeder rege sich auf seine Weise auf und suche seine Position zwischen Ideologie und Verstand.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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