Karl Schlögel: American Matrix; Montage: rbbKultur
Bild: Hanser Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Oktober 2023

Der Russland-Kenner Karl Schlögel blickt nun auch Amerika. Dabei stößt der Autor mit seinem raumzeitlichen Blick immer wieder auf die Verwerfungen der sozialen, ökonomischen und kulturellen Landschaft. Von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren wurde "American Matrix" auf Platz 1 unserer Sachbuchliste gewählt.

Man muss einen langen, wenn auch nicht schweren Weg lesend zurücklegen, um zum Kern von Schlögels eigenem Eindruck über Amerika, zur "American Matrix", zu kommen: Alle bedeutenden historischen und geografischen Beschreibungen Amerikas lässt Schlögel hier noch einmal recht ausführlich Revue passieren, wobei er immer aktueller werde Schwerpunkte herauskristallisiert, bis er schließlich zu dem Amerika kommt, das heute das wirkliche Amerika ist – ein Land, das sich in Raum und Zeit in einem unfassbaren Tempo selbst erschaffen und wieder verloren hat.

Abschied vom amerikanischen Zeitalter

Mit welchem Blick der Russland-Kenner Karl Schlögel nun auch Amerika misst, mag der Abschnitt über das Baseball-Stadion verdeutlichen, dessen geschichtliches Werden vom kleinen Platz zum größten Eventort des Landes er an diesen Orten abliest: Baseballstadien "geben als sichtbare Zentren und Mittelpunkt des Gemeindelebens Aufschluss darüber, wie Amerika tickt, welche Rolle sie in der Entwicklung des American Way of Life – und darüber hinaus – gespielt haben und vielleicht (noch) einmal spielen werden. Sie sind gebaute Monumente für das Zusammenspiel und die Entfesselung menschlicher Energien" (S. 658) und sie "verkörpern die Beziehung zwischen Stadt und dem weiten Land draußen" (S. 658).

Das Prinzip Schlögels ist gut zu erkennen: die Entfaltung des Ganzen vom Punkt aus. Dabei stößt Schlögel mit seinem raumzeitlichen Blick immer wieder – und vor allem: immer mehr – auf die Verwerfungen der sozialen, ökonomischen und kulturellen Landschaft. Gerade jetzt, da sich das amerikanische Zeitalter zu verabschieden scheint, ist dieser Blick auf die American Matrix faszinierend und nachdenklich stimmend. Wie viele Chancen, wie viele Gefahren.

Martin Andree: Big Tech muss weg!; Montage: rbbKultur

Demokratie in Gefahr

Dieses Schlagwort – viele Chancen, viele Gefahren – könnte auch für die Studie gelten, die der Medienwissenschaftler Martin Andree angestellt hat. Denn sein Aufruf: "Big Tech muss weg!" gilt ja der übermäßigen Macht der Digitalkonzerne, die sich in Amerika entwickelt haben. "Wir erleben mit dem Vormarsch der digitalen Medien", schreibt er, "eine der größten technologischen Revolutionen der Menschheit" (S. 14), die nun aber in die Hände der großen Player GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) gefallen ist und folgert: "Unsere Demokratie ist in Gefahr".

Andree hat systematisch die Strategien und Wirkungen der großen Medienkonzerne einerseits, die Reaktionen – und vor allem: die ausbleibenden Reaktionen – auf der anderen, unserer europäischen Seite, miteinander in Beziehungen gesetzt. Sein erschreckendes Resümee: In wenigen Jahren wird es keine oder nur noch unbedeutende unabhängige Medien geben. Dass dagegen aber etwas unternommen werden kann, zeigt er auch: Europa muss die Digitale Zukunft in die eigene Hand nehmen.

Manuela Lenzen: Der elektronische Spiegel; Montage: rbbKultur
Bild: C.H. Beck Verlag

Schreckgespenst "Künstliche Intelligenz"

Andererseits … ist das aufziehende Heil- oder Schreckgespenst "Künstliche Intelligenz", das Teil bzw. Krönung der digitalen Revolution zu sein scheint, noch dermaßen am Anfang ihrer Entwicklung, dass es sich lohnt, ihren Stellenwert in der Gesellschaft kritisch zu beobachten und angemessen zu bewerten, wie dies Manuele Lenzen in ihrem Buch "Der elektronische Spiegel" tut. Für sie besteht der entscheidende Hinweis darin zu erkennen, dass Denken und (künstliche) Intelligenz zwei durchaus unterschiedliche Qualitäten sind, mit allen Herausforderungen und Chancen für beides. In diesem Sinne: Denken wir nach, was unsere Welt zusammenhält.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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