Julian Nida-Rümelin: Cancel Culture; Montage: rbbKultur
Bild: Piper Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats September 2023

Über "Cancel Culture" wird schon länger gestritten – und dass nun auch der Philosoph Julian Nida-Rümelin mit einem eigenen Buch in die Auseinandersetzung einsteigt zeigt, wie es ernst ist – von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren wurde es auf Platz 6 unserer Sachbuchliste gewählt.

"Ende der Aufklärung?" fragt Nida-Rümelin im Untertitel seines Buches, und in der Tat greift er tief in die Geschichte des Denkens, um diese Frage zu beantworten. Er erinnert uns an die Denkbewegungen und deren Widerstände bei Aristoteles, John Locke oder gar Kant und vielen anderen. er zeigt, in welchen Widerstreit sie mit ihren Zeitgenossen lagen und es dabei immer wieder um die Frage ging, ob man die Meinung Andersdenkender anerkennt oder missachtet oder Andersdenkende gar herabsetzt, wer im Staat welche Rechte über sich und andere hat, ob überhaupt Freiheit des Einzelnen erhaben ist über die Anerkennung der Freiheit Anderer usw.

Natürlich plädiert Nida-Rümelin für das Prinzip der Vernunft, aber er zeigt auch, wie gefährdet sie ist: "… die Zivilkultur des alltäglichen Umgangs miteinander, der Kommunikation im privaten und öffentlichen Raum und in allen Zwischensphären, die die digitalen Plattformen bieten, [wird] zu einem essentiellen Element der Demokratie. Das Ausgreifen strategischer Kommunikation – die Diffamierung Andersdenkender, das Deplatforming nicht genehmer Positionen und Personen, die Praxis der Cancel Culture – ist mit demokratischer Zivilkultur nicht vereinbar". (S. 154)

Emmanuel Carrère: V 13; Montage: rbbKultur
Bild: Verlag Matthes & Seitz Berlin

Ergreifend, erschütternd, irritierend

Es gibt leichtere Varianten der Cancel Culture (z.B. "Darf man noch Winnetou sagen?" oder Harry Potter lesen?) und solche grausamen, menschenverachtenden und menschenvernichtenden Charakters. Solche, die Andersdenke auslöschen wollen, wie bei den Terroranschlägen am Freitag, dem 13. November 2015 in Paris, bei denen 130 Menschen getötet wurden. "V13" – so lautet der Codename für den Prozess und dies ist der Titel der Gerichtsreportage des französischen Schriftstellers und Filmschaffenden Emmanuel Carrère.

Ergreifend, erschütternd, in höchstem Maße irritierend sind die Eindrücke, die die Lektüre dieses Buches hervorrufen, denn Carrère beschreibt Opfer und Täter, Richter und Kläger, Beobachter und Zeugen mit einer seltenen Gabe für sensible, mitfühlende und herzzerreißende Tatbestände. Das Lob der Kritiker über dieses Buch ist überschwenglich – und es ist berechtigt. Viele Passagen sind in geradezu unerträglich beim Lesen: Wie schrecklich muss die Tat selber gewesen sein. Aber dieses Buch ehrt die Opfer, ohne ihnen zu nahe zu treten.

Helmut Böttiger: Czernowitz; Montage: rbbKultur
Bild: Berenberg Verlag

Grau, freudlos, unvergessen

Der Dichter, von dem die berühmte "Todesfuge" stammt, jenes bemerkenswerte Gedicht über Leben und Sterben in Konzentrations- und Arbeitslagern, Paul Celan, stammt aus dem heute in der Ukraine liegenden Ort Czernowitz. Er war nicht der einzige Dichter, der dort seine Wurzeln hat und deren Ruhm dem Ort im Nachherein einen gewissen Glanz verliehen hat. Von hier kamen auch Rose Ausländer und Gregor von Rezzori, Selma Meerbaum-Eisinger und Karl Emil Franzos um nur die bekanntesten zu nennen.

Der Essayist Helmut Böttiger hat Czernowitz bzw. "Die Stadt der toten Dichter", wie man sie heute manchmal nennt, mehrfach bis in die Gegenwart bereist und an dieser Stadt "Zeitenwenden" vom Vergessen-Wollen bis zum Wiederbeleben-Wollen als Kräfte der Geschichte und der Ideologien sichtbar gemacht. In diesem fast mythischen Ort leben die Menschen mit ihrem Versuch, die neue Ukraine gegen die alten Kräfte zu verteidigen.

Grau und freudlos kommen einem beim Lesen des Buches die Jahre in Czernowitz unter kommunistischer Herrschaft vor. Aber vergessen war der Ort nie. Jetzt lebt er wieder auf und pflegt seine kulturellen Schätze.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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