Philharmonie Berlin - Klavierabend Grigory Sokolov
Der russische Pianist Grigory Sokolov ist ein Phänomen: Er gilt als scheu, mag keine Interviews, macht keine Studioaufnahmen und erarbeitet pro Jahr nur ein Programm, das er dann überall spielt. Und die Stücke hört man eher selten im Konzert. Der ehemalige Geheimtipp sorgt längst für ausverkaufte Häuser.
Es war wie inzwischen immer: In die Berliner Philharmonie passte keine Maus mehr hinein. Selbst die Podiumsplätze, vulgo: Chorbänke waren dicht gedrängt besetzt. Und es war klar: vor den sechs Zugaben geht (fast) niemand. Es ist ein Ritual – man weiß, was man an ihm hat und macht mit.
Bach – begeistert und enttäuscht
Das trauen sich inzwischen die Wenigsten – eine ganze Bach-Hälfte. Und dann noch die Vier Duette aus dem Dritten Teil der Clavier-Übung. Hier gelingt Grigory Sokolov fast ein Wunder: streng durchkonstruiert, aber emotional extrem. Da fühlt man sich von Hagelkörnern brutal attackiert, bisweilen etwas freundlicher mit Samtüberzug, aber die Kunst, mit nur zwei Stimmen eine ganze Welt zu erschaffen, versteht der Pianist aufzuzeigen, wie man es nie so überzeugend gehört hat.
Die c-Moll-Partita kann da nicht mithalten. Das ist von Deutlichkeit und Nahaufnahme, von berückendsten Anschlangsnuancen. Aber hier wird jeder Ton gleich wichtig, da gibt es kaum Höhe- und Tiefpunkte, das wirkte wie aus der Navi-App, wo jede Silbe gleich betont wird. Alles ist richtig, aber warum muss das so künstlich klingen?!
Lehrstunde mit Chopin
Chopin spielen viele – und glücklicherweise tut es Grigory Sokolov so ganz anders als die meisten anderen. Der samtene Salonkomponiert, der virtuose Brillanzmeister, alles ist bei ihm weggefegt. Nun hat er sich auch sieben Mazurken ausgesucht, da verhält es sich ohnehin anders, da schreibt Chopin Tagebuch, und da lässt er sich in die Seele blicken.
Sokolov wischt den Tanzrhythmus da, wo es Chopin nicht schon selber tut, beiseite. Das blickt in die Hölle und holt einen dort wieder hervor. Wer hier Unterhaltung erwartet, wird vom Pianisten eines Besseren belehrt. Das sind die stärksten Momente dieses Abends, hier geht es buchstäblich um Leben und Tod. Nett geht anders. Gut so!
Die Zugaben
Natürlich gibt es wie immer bei Grigory Sokolov sechs Zugaben. Warum, bleibt sein Geheimnis, es ist ein Ritual, er kann es sich leisten, das Publikum zieht mit nicht enden wollendem Beifall ohnehin mit. Da gab es in den vergangenen Jahren schon die verrücktesten Kombinationen – diesmal war es eher ein Gemischtwarenladen.
Nicht gegen Skrjabin, Purcell, dreimal Chopin und Bach/Busoni – kann man alles spielen, und Sokolov interpretiert es zum Dahinschmelzen. Aber diesmal fehlt der Zauber – er liefert ab, was das Publikum erwartet. Man kennt es, selbst die Juchzer seiner Fans …
Gut, aber nicht mehr
Grigory Sokolov ist ein Meister in Sachen Artikulation, Technik, Ausdrucksvermögen, kurz: einer der musikalischsten Pianisten unserer Zeit. Und doch präsentierte sich dieses Konzert merkwürdig erstarrt. Der Bär, der auf die Bühne tapst und sich zum Musikzauberer verpuppt, sympathisch und angenehm. Aber darüber hinaus?
Hier war es nicht die jedes Jahr erwartete Sensation. War es das Programm? Oft wunderte man sich über das ausgefallene Repertoire, bei dem man im Stochern den Goldklumpen gefunden hat. Hier war alles schön und gut – aber vielleicht zu viel gesunde Ernährung und zu wenig Sterneküche (wobei sich das grundsätzlich ja nicht ausschließen muss …).
Andreas Göbel, radio3