Stephen King: Ihr wollt es dunkler © Heyne
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Horrorstorys | Buchempfehlung für den Sommer - Stephen King: "Ihr wollt es dunkler"

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Es war ein düsterer Song, den Leonard Cohen 2016 kurz vor seinem Tod veröffentlichte, vielleicht der düsterste auf einem sowieso düsteren Album und darum auch der Titelsong: "You want it darker". Ein Dialog mit Gott, eine Abrechnung mit ihm, durchdrungen von Cohens wütender Bereitschaft, vor seinen Schöpfer zu treten: "You want it darker, we kill the flame." Auch Stephen King muss beeindruckt gewesen sein von diesem Song. Denn er hat, leicht abgewandelt, sein neuestes Buch, einen Band mit zwölf Erzählungen, "You want it darker" genannt: "Ihr wollt es dunkler".

Man darf davon ausgehen, so wie es der deutsche Verlag getan hat, dass King anders als Cohen nicht Gott, sondern sein Publikum anspricht und diesem einmal mehr zu geben bereit ist, was es verlangt: düstere Geschichten, Horror, eine Welt, in der das Übernatürliche und Paranormale mit der Wirklichkeit korreliert und in der sich das wahre Amerika quasi als Beifang zeigt.

Bekannte Figuren aus älteren King-Romanen tauchen wieder auf

Dass King mit zunehmendem Alter (und nie nachlassender Produktivität) gern in seinem eigenen Werk herumstöbert und Figuren und Stoffe entdeckt, die ihm als noch nicht hinreichend erzählt erscheinen, macht den Horror nur noch attraktiv. In seinem letzten, vergangenes Jahr erschienenen Roman "Holly" ließ er eine aus schon so einigen seiner Romane bekannte Figur zur ermittelnden Hauptfigur werden. In "Ihr wollt es dunkler" ist es nun der aus dem sehr frühen King-Roman "Cujo" bekannte Werber Vic Trenton, dessen weiteren Werdegang King in der Geschichte "Klapperschlangen" erzählt.

Klapperschlangen

Nach dem Tod seiner Frau Donna, die er nach dem tragischen, durch einen tollwütigen Bernhardiner verursachten Verlust ihres gemeinsamen Sohnes viele Jahre später ein zweites Mal geheiratet hat, kommt Trenton nach Rattlesnake Key in Florida. Er will hier im Haus eines alten Freundes Abstand und Zuversicht für den Rest seines Lebens gewinnen.

Doch das ist nicht ganz so einfach. Im Gegenteil: Trenton lernt eine alte Dame kennen, Mrs Bell, die stets mit einem Zwillings-Kinderwagen herausgeht, so tut, als wären die beiden Plätze darin besetzt, T-Shirts der Zwillinge zeigen das an, und sich mit ihnen unterhält. Trenton erfährt von Nachbarn, wie die vier, fünf Jahre alten Jungs vor Jahrzehnten ums Leben gekommen sind, Klapperschlangen!, und so überlagern sich seine eigenen, traumatischen Erinnerungen mit der Rattlesnake-Key-Gegenwart und dem Schicksal der alten Dame:

"Ich sah sie förmlich vor mir. Sah sogar Jake und Joe…weil sie die beiden ebenfalls sah. Und nur weil ich am Ende doch nicht sie war, sah ich auch, dass sie tot waren. Die fahle Haut, der glasige Blick, die Schwellungen an Beinen und Fußgelenken. Weil das die Stellen waren, an denen die Schlangen sie gebissen hatten."

Ein Kinderwagen mit Eigenleben und Untote

Mrs Bell stirbt an einer Herzattacke. Der Kinderwagen aber beginnt ein Eigenleben zu führen, "Quietsch, Pause. Quietsch, Pause", und steht mehrmals vor dem Grundstück von Trentons Freund. Die Jungs werden für ihn zu Medien. Und war es nicht so, dass seinerzeit seine Frau auf ihrem Totenbett den verstorbenen Sohn sah und letzte Worte mit ihm sprach?

Der quietschende Kinderwagen und die drei toten Kinder als Untote führen leitmotivisch durch diese meisterhafte und beste Erzählung von "Ihr wollt es dunkler". Sie kam, wie King im Nachwort berichtet, "vollständig ausgeformt" zu ihm und wartete nur auf einen Auslöser, erzählt zu werden (in diesem Fall eine Warnung an Autofahrer in Form zweier grüner Plastikfiguren mit roter Mütze und dem Aufdruck: "Langsam. Spielende Kinder").

Licht und Schatten

Mit den anderen Stories erging es King ähnlich. Allerdings wechseln sich darin Licht und Schatten sprichwörtlich ab. Manche sind hervorragend, ohne die Klasse von "Klapperschlangen" zu erreichen, auch weil King gezwungen ist, sie in der Kürze eher auf den Punkt zu bringen als seine manchmal arg ausufernden Romane (wenngleich die längste Geschichte, "Danny Coughlins böser Traum“, mit ihren weit über zweihundert Seiten natürlich das Format eines kleinen Romans hat). Manche haben etwas Routiniertes, gerade wenn sie mit einem knalligen Ende aufwarten, so wie in "Der fünfte Schritt", wo eine zufällige Begegnung auf einer Parkbank tödlich endet.

Oder wenn sich, wie im Fall "Das rote Display", das Unheimliche wie im Vorbeigehen noch einmal zeigt. Ein Kriminalkommissar erfährt von einem Mörder, dass das Display von dessen Handy rot leuchtete und ihm anzeigte, nun sei es Zeit, der ständig auf ihm herumhackenden, an ihm herumnörgelnden Ehefrau ein brutales Ende zu bereiten. Auch der Kommissar hat Eheprobleme, die sich aber zum Ende der Story hin auflösen: Seine Frau erklärt ihm, was mit ihr los ist, und alles könnte gut sein. Wäre da nicht das Display, das auf einmal kurz rot aufleuchtet.

Keine Sicherheit

Sicherheit gibt es in keiner der Geschichten von Stephen King: nicht für den Leser, die Leserin, nicht für die jeweiligen Figuren. Der kleine Billy sieht in "Auf der Slip Inn Road" in der Grube eines alten Hauses plötzlich den Rest eines Frauenbeines in einem blauen Sneaker stecken, und die sowieso schon schlimme Fahrt mit seiner Familie zu einer sterbenden Großtante wird zum Horrortrip.

Der Vietnam-Veteran, der in "Die Träumenden" einem Wissenschaftler bei dessen Experimenten an lebenden Menschen hilft (denen plötzlich die Zähne aus dem Mund groß hervortreten und schwarze Tentakeln aus den Augen) wird zum Mittäter, könnte aber selbst auch ein wahnsinniger Fantast sein; und der ewige Pechvogel Finn aus der gleichnamigen Geschichte gerät in die Fänge mehrerer ziemlich irrer Entführer, ohne zu wissen, wie ihm geschieht.

Kings Schrift leuchtet hell

Keine der von jeweils gleich zehn Übersetzern ins Deutsche übertragenen Geschichten wirkt wie am Reißbrett entworfen. Eine jede hat ihren eigenen Spin, und allesamt erlauben sie einen tiefen Blick in den amerikanischen Alltag jenseits der Metropolen: hier die Leidenschaft für Autos, Baseball oder Kaffee, dort die überall verstreuten popkulturellen Zeichen, alles zusätzlich überwölbt von der Corona-Pandemie.

In und mit "Die Träumenden" verbeugt sich Stephen King vor H. P. Lovecraft, C.G. Jung und Cormac McCarthy, um damit nicht zuletzt das eigene Feld abzustecken, in dem er sich motivisch und literarisch bewegt. Schwarz ist es, voller Dynamik im Un- und Unterbewussten – und getragen von der Hoffnung, dass sich nicht alles zum Guten wendet, aber auszuhalten ist.

Wie sagt es der Erzähler der ersten Geschichte: "Nichts war in Ordnung, es schmerzte, aber ich wusste, dass der Schmerz abklingen würde. Ich würde in mein Leben zurückkehren, und der Schmerz würde abklingen."

So leicht lassen sich Flammen nicht killen, und die hell leuchtende des Schriftstellers Stephen King erst recht nicht.

Gerrit Bartels, radio3

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