Jérôme Ferrari: Nord Sentinelle © Secession Verlag
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Roman - Jérôme Ferrari: "Nord Sentinelle"

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Die indische Insel "North Sentinel Island" hat kaum jemand betreten und lebend wieder verlassen. Die Bewohner vertreiben oder töten sogar fast jeden, der sie betritt. Sie gehören damit zu den wenigen völlig autark lebenden indigenen Gruppen der Welt. Der französische Autor und Prix Goncourt-Preisträger Jérôme Ferrari hat sein neuestes Buch nach dieser Insel benannt: Nord Sentinelle. In Frankreich wurde sein Roman über den Mord an einem Touristen von der Kritik begeistert aufgenommen. Heute erscheint es auf Deutsch im Secession Verlag.

Was wäre, wenn eine wunderschöne Mittelmeerinsel, mit ihren herrlichen Stränden und rauen Bergen, nie von anderen als ihren einheimischen Bewohnern betreten worden wäre? Wenn niemals ein Reisender, kein einziger Tourist, die Insel auch nur aus der Ferne gesehen hätte? Lebten die Menschen dort in einem unberührten Paradies? Statt in einer Hölle aus riesigen Bettenburgen, monströsen Kreuzfahrtschiffen und rücksichtslosen Massen belgischer, deutscher und australischer Touristen? Diese Frage stellt Jérôme Ferrari und beantwortet sie schon zu Anfang ganz klar mit: Ja.

"Es ist keine Prophezeiung vonnöten, um zu wissen, dass der erste Reisende stets unzählige Katastrophen nach sich zieht.“

Ein Roman voll bitterbösen Humors

Die Katastrophen in diesem Roman sind vielfältig: Die Insel verliert ihre Identität und liefert sich selbst über die Jahrzehnte dem Ausverkauf aus – und die Bewohner vernichten sich gegenseitig in einer über Generationen gepflegten Spirale aus Hass und Brutalität, die im Mord an einem jungen Touristen endet.

Ferrari erzählt diese eigentlich tragische Geschichte mit unheimlicher sprachlicher Wucht und einem immer wieder überraschenden herrlich bitterbösen Humor. Seine schon legendär gewordenen kunstvoll miteinander verschlungenen Sätze, die kein Ende zu nehmen scheinen, machen es fast unmöglich, das Buch auch nur kurz zur Seite zu legen:

"Auf der Straße unten nähert sich der kleine Touristenzug mit zwanzig km/h. In ihm drängen sich lauter Schwachsinnige – wie anders sollte man Erwachsene nennen, die es wohlweislich gutheißen, in diesem Vehikel der Ehrlosigkeit und Schande Platz zu nehmen? -, Schwachsinnige also, denen eine weibliche Stimme in drei verschiedenen Sprachen über Lausprecher verkündet, dass sie am Gymnasium vorbeifahren. Obwohl dieser Information noch selbst der geringste Verdacht eines möglichen Interesses ermangelt und die zugleich Bände spricht über den Reichtum unseres architektonischen Erbes, machen sie Fotos und winken fröhlich einigen Schülern zu, die auf dem Bürgersteig rauchen und zurückgrüßen, indem sie alle, in einer schönen gemeinsamen Geste, in Richtung des Zuges ihren Mittelfinger strecken.“

Korsika als tristes Disneyland

Jérôme Ferrari nennt nie den Namen der geplagten Insel, doch befinden wir uns ganz klar auf seiner Heimatinsel Korsika, wie in so vielen seiner Romane.

Sein Erzähler gehört zu den Einheimischen, die seit ihrer Kindheit beobachten, wie die Insel in den Sommermonaten zu einem Disneyland für Touristen wird und außerhalb der Saison nur noch Leere und Tristesse zu bieten hat. Allerdings: der Erzähler ist ein derart menschenfeindlicher Zyniker, dass seinem Bericht nicht zu trauen ist. Denn mit dem gleichen Hass wie die Touristen beschreibt er seine besten Freunde und seine Familie, fast niemand bleibt von seinem vernichtenden Urteil verschont. Am härtesten trifft es den jungen Alexandre, den Sohn der Frau, die er selbst nicht haben konnte und der später zum Mörder werden wird:

"Seit der Grundschule musste sich Alexandre mit Besorgnis erregenden Schwierigkeiten herumschlagen, die Catalina, blind vor mütterlicher Liebe, einem Übermaß an Sensibilität, einem verträumten Charakter, sogar einer eher unkonventionellen Form von Genie zuschrieb, obwohl ihre tatsächliche Ursache doch allzu deutlich war, betrachtete man die Situation einmal objektiv: Der Bengel war schlicht und einfach dumm. (...) Das einzige Gegenmittel zur Verhinderung dieses genetischen Desasters hätte darin bestanden, dass Catalina ihren Sohn vor dessen Existenz bewahrt und also darauf verzichtet hätte, mit Philippe zu schlafen, was sie offenkundig nicht getan hat.“

Ein sprachlich atemberaubend schönes Kunstwerk

Anhand der Geschichte Alexandres und seiner – aus Sicht des Erzählers – allesamt missratenen Vorfahren versucht Jérôme Ferrari die Ursache der Gewalt und des Hasses zu ergründen, - vor der Kulisse einer scheinbar degenerierten Gesellschaft, in der sich die dreisten Touristen und die betrügerischen Einheimischen an Erbärmlichkeit in nichts nachstehen. Ferrari gehört zu den Autoren, die jede noch so deprimierende Geschichte in ein atemberaubend schönes Kunstwerk verwandeln können. Für die deutschen Leser werden seine Werke von Anfang an von seinem Stamm-Übersetzer und Secession Verleger Christian Ruzicska meisterhaft übersetzt – so dass zum Glück nichts von Ferraris wunderbarer Sprache verloren geht.

Irène Bluche, radio3

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