Vigdis Hjorth: Wiederholung © S. Fischer
S. Fischer
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Roman - Vigdis Hjorth: "Wiederholung"

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Norwegischen Autorinnen und Autoren werden in diesem Frühjahr in aller Munde sein: Norwegen ist das Gastland der Leipziger Buchmesse Ende März. Im Vorfeld erscheinen schon einige Bücher bei uns in Deutschland, so wie der neueste Roman der in Norwegen sehr berühmten und kontrovers diskutierenten Autorin Vigdis Hjorth. Nach "Die Wahrheiten meiner Mutter" und "Ein falsches Wort" hat der S. Fischer Verlag nun auch "Wiederholung" ins Deutsche übersetzt.

"Alles, was du vergessen willst, kehrt zu dir zurück." - So beginnt "Wiederholung" und stellt schon mit den ersten Sätzen klar, was Vigdis Hjorth in ihren Werken umtreibt: Die unumgängliche Wiederkehr all der Verletzungen, die Menschen verdrängen, ob absichtlich oder nicht:

"(...) Wenn jedoch alles wiedererlebt und durchlebt ist, wenn der lähmende Schmerz abnimmt, wirst du vermutlich erkennen, dass du eine neue Einsicht in die Bedeutung dieser spezifischen Erinnerung gewonnen hast; deshalb ist sie zu dir zurückgekehrt: um dir etwas zu erzählen. Warum schreibe ich du, wenn ich ich meine?"

Ich, Du und die Anderen

Vigdis Hjorth spielt mit dem Ich und dem Du und löst vor allem bei ihren norwegischen Landsleuten immer wieder Spekulationen darüber aus, ob das Erzähler-Ich eigentlich die Autorin selbst sei und sie damit ihre Familie der Öffentlichkeit preisgäbe. Eine heikle Unterstellung, denn es geht um sexuellen Missbrauch durch den Vater und das Mitwissen der Mutter. Vigdis Hjorth selbst verneint eine Verbindung zu ihrer eigenen Familie und letztendlich spielt es auch keine Rolle: Als literarisches Werk stehen ihre Romane für sich und gerade für die deutsche Leserschaft ist es unerheblich.

Eine arrivierte Schriftstellerin blickt zurück auf ihr 16-jähriges Ich, auf ihre Jugend in den 1970er Jahren in einer kleinen norwegischen Stadt. Zu Hause tyrannisiert sie ihre Mutter, die sie von allen Lastern dieser Welt fernhalten will. Ein dunkles Geheimnis scheint über der Familie zu schweben. Doch ihre Gedanken kreisen vor allem um Partys, Jungs und den ersten Sex, den sie und ihre Freundinnen unbedingt erleben wollen:

"Gegen sieben Uhr gingen wir in der Dunkelheit zur Bushaltestelle, und der graue Regen verwandelte sich in Schnee, der weich und glitzernd fiel, und wir gingen in dem ganz besonderen Geruch von Lippenstift und Parfüm darunter hindurch, es war kalt, ich werde das nie vergessen. Lachend und beflügelt, aber zugleich stumm und demütig vor dem, was passieren würde, was in der Luft lag. Unni war nicht mit Lars zusammen, Helle war nicht mit Stein zusammen, aber ich war mit Finn zusammen, und wenn man über sechzehn Jahre alt und mit jemandem zusammen ist, dann tut man es.“

Zwischen Slapstick und Beklemmung

Vigdis Hjorth schreibt zwar über existentiell tragische Themen wie Missbrauch und beklemmende Familiendynamiken, doch schafft sie es, dabei eine ironische Distanz zu bewahren. Das Mädchen verliebt sich in Finn Lykke – ein Witz, der nur im Norwegischen funktioniert. Übersetzt bedeutet der Name: Finde das Glück. Dieser Finn Lykke, der sie mit seiner Lederjacken-Coolness beeindruckt, stellt sich als Katastrophe im Bett heraus. Die slapstickartige Szene des missglückten "ersten Mals" bietet Hjorth bei Lesungen so dar, dass sie selbst fast vom Stuhl fällt vor Lachen.

Doch wechselt sie ebenso schnell von der Komik in die Tragik. Das Mädchen bringt es nicht über sich, in ihr geliebtes Tagebuch die Wahrheit zu schreiben und erfindet eine von Pornoheftchen inspirierte 35-seitige wilde Nacht, nur um ihr Tagebuch nicht zu enttäuschen. Ihre kontrollsüchtige Mutter findet und liest den Eintrag und das Leben des Mädchens wird nie wieder dasselbe sein:

"Sie wissen noch immer nicht, dass das, was ich dem geheimen Tagebuch anvertraut hatte, nicht stimmte, dass es erdichtet und geträumt war, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Aber die Wirkung, die sie hatte, meine erste Geschichte, und das Entsetzen, das sie auslöste, lehrten mich etwas Entscheidendes: dass das, was wir erdichten, von größerer Bedeutung sein kann als das, was wahr ist, dass es wahrer sein kann.“

Geburt einer Schriftstellerin

Diese eine erdichtete Geschichte lässt einerseits eine Familie endgültig zerbrechen, andererseits ist eine Schriftstellerin geboren. Der Dialog, den die gealterte Autorin mit dem jungen Mädchen von damals immer wieder führt, ist spannungsgeladen, tragisch und komisch zugleich. Vor allem geht es aber um den Ursprung literarischen Schaffens: Warum erdichten wir Geschichten, gibt es überhaupt Wahrheit und welche Macht kann das geschriebene Wort haben – diese Fragen ziehen sich durch das Werk Vigdis Hjorths und werden in "Wiederholung" auf kluge und äußerst unterhaltsame Weise neu durchgespielt.

Irène Bluche, radio3

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