Joann Sfar: Der Götzendiener © avant-verlag
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Comic des Monats – Juni 2024 - Joann Sfar: "Der Götzendiener"

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Der Comic-Autor Joann Sfar, der mit "Die Katze des Rabbiners" Erfolge gefeiert hat, wurde gerade beim wichtigsten deutschen Comicfestival für sein Lebenswerk geehrt: für sein vielfältiges Werk und auch, weil er sich in zwei großen Comicbänden mit seiner jüdischen Herkunft auseinandersetzt. Der zweite Band ist gerade erschienen: "Der Götzendiener". Sfar erzählt darin, wie er trotz des jüdischen Bilderverbots Zeichner wurde – und von dem Fehlen der Mutter, die früh starb. Andrea Heinze hat Joann Sfar getroffen.

Als die Mutter von Joann Sfar starb, war er gerade einmal drei Jahre alt. Der Comic „Der Götzendiener“ beginnt mit einer sehr frühen Erinnerung an die Mutter. Der kleine Joann Sfar sitzt nackt auf einem Töpfchen. Die Mutter und eine Freundin sind begeistert, dass der Junge keine Windeln mehr braucht. Doch Joann interessiert nur die Nudel, die er in Händen hält: er betrachtet deren hohle und gebogene Form mit dem Blick eines Zeichners. Und dieser Blick beschert ihm einen großen inneren Konflikt. Denn Joann Sfar wird als Jude erzogen, und in der jüdischen Tradition gibt es ein Bilderverbot. Man soll sich kein Bild machen von Gott und der Welt – und vor allem soll man sich nicht von der Welt zurückziehen, um Bilder zu machen. Doch Joann Sfar will schon als Kind nichts anderes als zu zeichnen.

Zeichnen als Flucht vor der Welt?

Diesen Konflikt zwischen dem Bilderverbot und der unbedingten Ambition zu zeichnen verhandelt Joann Sfar im Dialog mit einer Psychologin, der den ganzen Comic durchzieht. Die Psychologin fragt zum Beispiel, ob das Zeichnen nicht einfach nur die Leerstelle füllen soll, die seine Mutter hinterlassen hat. Oder ob das Zeichnen nicht einfach nur eine Flucht vor der Welt sei. Die Fragen der Psychologin strukturieren den Comic, die Antworten darauf sind philosophisch und mitunter deftig. Sfar zeichnet Szenen aus seinem Leben, die teils sexuell aufgeladen sind. Etwa von der Journalistin, die ihn nackt interviewt, während er sie zeichnet. Bis zum Schluss werden die beiden einander nicht berühren. Eine bemerkenswerte Geschichte, befindet die Psychologin und schiebt nach, dass Sex zwischen den beiden vermutlich befriedigender gewesen wäre.

Der Vater wünscht, dass er koscher isst

Sfar erzählt in dem autobiografischen Comic "Der Götzendiener“ auch, wie er zum Geschichtenerzähler wurde. Und das macht er auf gewohnt unterhaltsame Weise. Da ist zum Beispiel die Episode, als er in eine jüdische Kantine geht und dort auf strenggläubige Studenten trifft, die er des vermeintlichen Götzendienstes überführt.

Die Kantine besucht er, weil sein Vater wünscht, dass er koscher isst. Doch dort trifft er jüdische Studenten, die Fotos von berühmten Rabbis sammeln und verehren, als seien das Fußballstars. Das ist eines der Erlebnisse, die Joann Sfar einen Schritt weiter in Richtung der persönlichen Freiheit bringen.

Joann Sfar: "Der Götzendiener" © avant-verlag

Zwei Jahre nicht vom Tod der Mutter erfahren

Den Comic "Der Götzendiener“ hat Joann Sfar mit seinem berühmten schnellen und präzisen Strich gezeichnet. Die mediterrane Welt des Nizza seiner Kindheit flirrt vor den Augen der Leser*innen. "Der Götzendiener" ist der zweite Teil seiner Autobiografie. Im ersten Teil mit dem Titel "Die Synagoge“ geht es handfest zu. Sfar erzählt, wie der Vater ihm den jüdischen Glauben vermittelt hat und sich für seine Überzeugung auch schon mal prügelte.

Der zweite Band "Der Götzendiener“ reflektiert vor allem, wie Sfar als Jude Zeichner sein kann – und was der frühe Verlust der Mutter für sein Leben bedeutet. Das Cover dieses zweiten Bandes erinnert auffällig an den Comic "Die Katze des Rabbiners“. Darin geht es um eine Katze, die reden kann aber nicht darf. Als Vorlage für beides hat er ein Bild seiner Mutter genommen, auf dem sie den Comiczeichner als Baby auf dem Arm trägt.

Bei der Serie "Die Katze des Rabbiners“ liegt statt des Babys eine Katze im Arm. Joann Sfar sieht sich selbst als diese Katze, sagt er im Interview. Denn als seine Mutter starb, hat man ihm zwei Jahre lang verschwiegen, dass sie tot ist. Das sei, als würde man in einer Familie leben, in der man von allen Gesprächen ausgeschlossen ist.

Mit "Der Götzendiener“ gibt Joann Sfar also auch Hinweise an seine Fans, wie seine zahlreichen anderen Comics autobiografisch inspiriert sind. Tatsächlich gibt es einige Themen, die seine Comics immer wieder durchziehen. Es geht ihm um Diversität, dass Menschen so sein dürfen, wie es ihnen entspricht – und es geht ihm darum zu zeigen, dass Juden und Muslime einander oft ähnlich sind und friedlich zusammenleben können. Vor dem Hintergrund der Angriffe der Hamas am 7. Oktober und dem folgenden Gaza-Krieg klingt das wie eine Utopie.

Andrea Heinze, radio3

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