Richard Rorty: Pragmatismus als Antiautoritarismus; Montage: rbbKultur
Bild: Suhrkamp Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats März 2023

Diesmal passen fast alle Bücher unserer Monatsliste unter das Stichwort: Spiegel der Zeit. In ihrer unterschiedlichen Art lassen sie sich alle auf die "Zeitenwende" des vorigen Jahres beziehen. Selbst ein Buch über den römischen Kaiser Nero, der gern als Wahnsinniger bezeichnet wird, lässt an autoritäre Herrscher unserer Zeit denken ...

Mit Peter Longerichs Studie über die "Sportpalast-Rede 1943" haben wir, wie es in einer Rezension heißt, ein "Beispiel dafür, wie Propaganda stets den eigenen Machthunger als Volkswillen verkauft. (…) Die Selbststilisierung als Opfer mächtiger Feinde, denen man in historischer Mission entgegentritt – darum geht es." (3sat "Kulturzeit"). Das kommt uns sehr bekannt vor.

Größer könnte der Kontrast allerdings bei diesen Büchern auch kaum sein: hier das Buch des amerikanischen Philosophen Richard Rorty über "Pragmatismus als Antiautoritarismus", dort Paul-Philipp Hanskes und Benedikt Sarreiters "Ekstasen der Gegenwart". Hier der "Weg zu jener Art von Freiheit, die darin besteht, dass die Menschen die vollständige rationale Verantwortung für ihre eigenen Taten und Behauptungen übernehmen" (Rorty, S. 7), dort die "beglückend empfundene Befreiung und Entlastung des Menschen von sich selbst" (Ekstasen, S. 54).

Und als drittes Buch Thomas Metzingers "Bewusstseinskultur", eine Anleitung zur Überwindung der globalen Katastrophe durch intellektuelle Redlichkeit.

Rationalität, Irrationalität und intellektuelle Kompetenz

Die Jury hat sich mit durchaus unterschiedlichen Bewertungen durch diese Bücher gearbeitet. Ihre Gemeinsamkeit besteht in der Spanne von Rationalität, Irrationalität und intellektueller Kompetenz. Richard Rorty, der 2007 verstorbene Philosoph, gilt als Hauptvertreter des Neo-Pragmatismus und hat sich zeitlebens mit der Frage beschäftigt, ob die Welt, in der wir leben, eine objektive oder konstruierte Wirklichkeit sei.

Da sie nicht zu beantworten sei, schlug er vor, "dass wir unsere philosophischen Reflexionen im Umkreis unserer politischen Hoffnungen aufbauen, nämlich im Umkreis des Projekts der Gestaltung von Institutionen und Gebräuchen, die das menschliche Leben – das endliche und das sterbliche Leben – schöner machen". So steht es in dem "verloren geglaubten letzten Buch" (Robert B. Brandom), das im März an der Spitze unserer Liste steht.

Fluchten aus der Wirklichkeit

Methoden zur Verschönerung des Lebens findet man freilich nicht nur in der Philosophie oder im praktischen Handeln. Welche man gesucht, gefunden, praktiziert und aus moralischer oder politischer Ranküne verboten und verdrängt hat, das schildern Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter. Es geht um den Rausch, die "Nachtseite der Kultur" (S. 15), die Macht von "Psychedelik, Spiritualität und Ritualität" (S.19) – mit Auswirkungen auf das normale gesellschaftliche und politische Leben. Sehr anschaulich geschildert und mit interessanten Perspektiven auf Fluchten aus der Wirklichkeit, die wir gar nicht als solche wahrnehmen.

Vor falschen Fluchten in Zweckoptimismus und Irrationalität warnt nun Thomas Metzinger und ruft zu einer neuen "Bewusstseinskultur" auf. Diese Handreichung zur "intellektuellen Redlichkeit" räumt mit dem Gedanken auf, man könne, angesichts der globalen Krisen, allen voran der Klimakrise, einfach so weitermachen wir bisher. Metzingers Kredo: Wir müssen die Selbsttäuschungen überwinden. Nichts schwerer als das.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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