Judit Reigl: Ausbruch / Outburst, 1956 © ungary © Fonds de dotation Judit Reigl
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Neue Nationalgalerie - Judit Reigl. Kraftfelder

Bewertung:

Die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ist gut erforscht – sollte man meinen. Doch immer wieder tauchen Künstler und vor allem Künstlerinnen auf, die zwischenzeitlich vergessen wurden oder gar nie die Bekanntheit erlangten, die sie eigentlich verdient hätten. Die Malerin Judit Reigl ist so ein Fall.

Geboren 1923 in Ungarn und gestorben 2020, verabrachte Judit Reigl den größten Teil ihres Lebens in Frankreich, wo sie sich in den 50er Jahren der Abstraktion zuwandte und zum engen Kreis derjenigen gehörte, die auch international als Teil des französischen "Informel" wahrgenommen wurden. Zu ihrem 100. Geburtstag und anlässlich der Schenkung von drei Hauptwerken zeigt die Neue Nationalgalerie eine kompakte Übersicht überihr Werk: 16 teilweise großformatige Gemälde, die ihre Entwicklung von surrealistischen Anfängen über eine gestisch abstrakte Malerei bis hin zum figürlichen Spätwerk nachzeichnen.

Bilder aus Bewegung

Mit einem Blick wird so deutlich, was diese experimentierfreudige Künstlerin bemerkenwert macht: Sie leistete einen ganz eigenen Beitrag zu den künstlerischen Strömungen ihrer Zeit, entwickelte ihre eigene Spielart expressiver Abstraktion, blieb aber nie – wie andere – bei einer "Manier" stehen. Reigl konterkarierte die scharfe Trennung zwischen Figuration und Abstraktion, die nach dem Zweiten Weltkrieg ideologisch grundiert und schier unüberwindlich war. Sie passt in keine Schublade, was ihrer Karriere und einem festen Platz in der Kunstgeschichte sicher abträglich war.

Was dieses vielgestaltige Werk im Kern zusammenhält, ist die Körperlichkeit ihrer Malerei - in ihrer Erscheinung, aber auch was den Entstehungsprozess betrifft. Judit Reigls Bilder verdanken sich raumgreifenden Bewegungen, bei denen sie schon bald auf Pinsel oder Malmesser verzichtete und stattdessen die Farbe mit Händen auftrug, teilweise auf die Leinwand warf und dann mit Geräten aller Art bis hin zu einer entsprechend zurechtgebogenen Gardinenstange in kreisenden oder schwingenden Bewegungen verteilte. So entstand u.a. die Serie "Kraftfeld" (Centre de dominance), bei der ein Farbstrudel vom Zentrum aus zu den Rändern immer mehr aufreißt, immer mehr grundierte Leinwand freigibt, und dabei immer mehr an Farbigkeit verliert, immer schwärzer wird.

Bildergalerie

Neue Nationalgalerie: Judit Reigl. Kraftfelder

Figürlichkeit wider Willen

In solchen "automatischen" Prozessen "unterlief" ihr Anfang der 1970er Jahre auch eine Rückkehr zur Figürlichkeit - wider Willen. Sie erkannte, dass das, was sie auf die Leinwand gebracht hatte, eine anthropomorphe Form war, etwas, das an einen menschlichen Körper erinnerte. Im Katalog, der zu dieser Ausstellung erschienen ist, erinnert sich Reigl in einem Interview, dass die Kritiker sie beschimpften, als sie 1972 solche Arbeiten ausstellte, weil sie "das Abstrakte zugunsten des Figürlichen aufgegeben hatte". Sie jedoch akzeptierte, dass ihre Bilder diese Wendung nahmen, lotete die Figur eine Weile lang aus, ehe sie in den 80er Jahren zur Abstraktion zurückkehrte. Wie in einem Tanz – tatsächlich auch zu Musik – trägt sie Email-Lack auf rundum hängende Leinwände auf. Bisweilen präsentierte sie diese dann mit der Rückseite nach vorn: Der Lack, der durch die Leinwand durchgeschlagen hat, erscheint dort in ätherischen, geradezu "körperlosen" Farbspuren.

Zuletzt, am Ende ihres Lebens, kehrte die Malerin schließlich nochmals zur menschlichen Figur zurück, die sie als Silhouetten malt, sehr still und statisch.

Bindeglied zwischen Surrealismus und Abstraktem Expressionismus

Die "automatische" malerische Bewegung war ein Verfahren, das Judit Reigl vom Surrealismus übernahm. Dort liegen auch die Wurzeln des amerikanischen Abstrakten Expressionismus, der sie ebenfalls beeinflusste. Die drei schwarz-weißen Bilder ihrer Serie "Massenschrift" z.B. (sie hat immer in Serien gearbeitet) erinnern stark an die kalligraphische Schwarz-Weiß-Malerei eines Franz Kline. Und auch die Rolle, die der Körpereinsatz beim Malen, die eigene Bewegung für Judit Reigl spielte, verbindet sie mit den amerikanischen Kollegen.

Damit passt diese unangepasste Künstlerin hervorragend in die Sammlung der Nationalgalerie, die mit der Sammlung Pietzsch über einen Bestand verfügt, der u.a. diesen Brückenschlag zwischen Surrealismus und abstraktem Expressionismus illustriert.

Silke Hennig, rbbKultur