Olga Tokarczuk: E.E. © Kampa
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Roman - Olga Tokarczuk: "E.E."

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Mit Olga Tokarczuks Roman "E.E.", der jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt wurde, schließt sich ein Kreis zu ihrem davor letzten Roman "Empusion, eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte". Denn in beiden führt sie in die deutsche Vergangenheit Schlesiens und Breslaus und in beiden geht es um das Unheimliche.

Es schließt sich ein Kreis, denn "E.E." hatte Olga Tokarczuk bereits 1995 in Polen veröffentlicht. Es war ihr zweiter Roman. Dank des Schweizer Kampa Verlages werden nun endlich sämtliche Bücher von ihr nach und nach ins Deutsche übersetzt. Jahrelang hatte Tokarczuk mit deutschen Verlagen eher weniger Glück. Warum immer wieder die deutsche Vergangenheit?

Beschäftigung mit den Spuren der deutschen Geschichte

Die 90er Jahre in Polen waren mit der Wiederaneignung der eigenen Geschichte verbunden, über die in der kommunistischen Ära nicht gesprochen werden durfte: die Westverschiebung Polens durch Stalin nach 1945. Damit verbunden war die Umsiedlung und Vertreibung von fast zwei Millionen Polen. Umgesiedelt wurden sie in die ehemals deutschen Dörfer und Städte, die als "wiedergewonnene Gebiete" bezeichnet wurden. Nach Breslau, ab 1945 Wroclaw, soll vor allem die ehemalige Bevölkerung Lembergs umgesiedelt worden sein.

Über die Beschäftigung mit den Spuren der deutschen Geschichte, die überall noch sichtbar war, wurde es möglich sich an die eigene Vertreibung zu erinnern. Olga Tokarczuk lebte in diesen Jahren auf einem Bauernhof im Glatzer Land. Überall stieß sie auf diese Spuren der ehemaligen Bewohner, für die es im Polnischen ein eigenes Wort gibt: "poniemieckie", was sich ungefähr übersetzen ließe als: das nach den Deutschen, also das, was von ihnen übrigblieb.

Auch davon handelte vielleicht ihr bekanntester Roman "Taghaus Nachthaus" (2001), mit dem sie vor allem dann in Deutschland bekannt werden sollte. Olga Tokarczuk wurde für diese Erinnerungsarbeit eine wichtige Stimme in Polen und deswegen oftmals auch angefeindet.

E.E.?

Der Titel ist rätselhaft. Bei "E.E." handelt sich um eine Abkürzung, wie sie in medizinischen und psychoanalytischen Fallstudien üblich waren. Olga Tokarczuk ist selbst ausgebildete Psychologin, arbeitete auch einige Jahre in diesem Beruf und war stark von dem Schweizer Begründer der analytischen Psychologie und Freud-Schüler C.G. Jung beeinflusst. C.G. Jung entwickelte seine ersten Ansätze für seine spätere Theorie von den Archetypen und dem kollektiven Unbewussten aus der Untersuchung eines spiritistischen Mediums, seiner Cousine Hélène Preiswerk.

C.G. Jung nahm an etliche Séancen teil und protokollierte diese dann für seine Dissertation, die 1902 erschien. In seiner Dissertation war seine Cousine dann das Fräulein S.W. Aus dem Fräulein S.W. wird bei Olga Tokarczuk Erna Eltzner, also E.E., die sie von Zürich nach Breslau verpflanzt. Teilweise übernimmt sie einiges von C.G.Jungs Fallbeschreibungen fast als wortwörtliches Zitat, wobei sie C.G Jungs geradezu menschenverachtende und heute nicht mehr zu ertragende Sprache abmildert:

Heißt es bei C.G.Jung noch: "Mutter angeboren psychopathisch minderwertig, oft ans Psychotische streifend, eine Schwester ist hysterisch, visionär, eine zweite Schwester leidet an 'nervösen Herzzufällen' Fräulein S.W. zeigt etwas rachitischen Schädelbau ohne ausgesprochenen Hydrocephalus (Wasserkopf)".

So steht bei Tokarczuk dagegen:

"Die Mutter, polnischer Herkunft, psychisch labil, von kleinem Körperbau, leidet an Migräneanfällen und nervösen Zuständen. Die Geschwister von E. E. – fünf Schwestern, zwei Brüder – ohne Auffälligkeiten. Fräulein E. E. ist schmächtig. Rachitischer Schädel mit hoher, protuberanter (hervorstehender) Stirn, der Kiefer klein."

Auch bei Olga Tokarczuk gibt es einen angehenden Psychoanalytiker, Arthur Schatzmann, der Erna Eltzner streng wissenschaftlich untersuchen will. Aber Tokarczuk gibt ihm einen Gegenspieler hinzu, Walter Frommer, der an das Paranormale und die spiritistische Kraft von Erna Eltzner glaubt und sie daher ebenso als wissenschaftlichen Beweis aufbauen will. Erna ist dabei nur das Objekt für ihre jeweils eigenen Interessen. Dies gilt ebenso für deren Mutter, die sich durch ihre Tochter plötzlich im gesellschaftlichen Mittelpunkt Breslaus sieht, denn ihre Tochter ist eine Sensation. Alle wollen an diesen spektakulären Séancen teilnehmen. Selbst Ernas zehnjährigen Zwillingsschwestern missbrauchen sie für ihre eigenen Spiele.

Vorboten

Tokarczuk bringt dem Leser in diesem frühen Roman das beginnende 20. Jahrhundert mit all seinen irrationalen Strömungen nahe. Ernas Mutter ist z.B. eine begeisterte Leserin der Esoterikerin Helena Petrovna Blavatsky, die ebenso mit ihrer Theosophie den geistigen Boden für Antisemitismus und okkulten Rassismus vorbereitete. Tokarczuk nähert sich der Epoche der Jahrhundertwende genauso in ihrer Sprache. Jedes Kapitel wird jeweils zwar immer aus der Sicht einer anderen Person geschildert, d.h. aus der Sicht von Erna, dem Psychoanalytiker, dem Esoteriker, den Zwillingen, aber es ist nie eine wirkliche Innenperspektive, sondern eine fast konventionelle Erzählerinnenstimme.

Auf eine Art ist dies auch typisch für Tokarczuk, die immer wieder ihre Sprache und Stil jeweils dem Stoff, den sie bearbeitet, anpasst. Trotzdem muss man einräumen, dieser Roman ist sprachlich noch weit dem entfernt, mit dem sie dann ihren Durchbruch auch international haben wird. Er ist noch eine erste Fingerübung. Da geht es Tokarczuk eher darum, einen Stoff erzählerisch in den Griff zu bekommen und Strukturen aufzubauen. Aber mit "E.E." kann man nun auch Olga Tokarczuks Entwicklung von ihren ersten Anfängen an endlich auch nachvollziehen.

Tomas Fitzel, radio3

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