Peter Sloterdijk: Der Kontinent ohne Eigenschaften © Suhrkamp
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Lesezeichen im Buch Europa - Peter Sloterdijk: "Der Kontinent ohne Eigenschaften"

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Telefonisch ist Europa nicht erreichbar. Das Bonmot, er wisse gar nicht, welche Nummer er wählen solle, um Europa an die Leitung zu bekommen, wird dem einstigen US-Außenminister Henry Kissinger zugeschrieben – auch wenn der selbst sich nicht daran erinnern konnte, so etwas gesagt zu haben. Am Tag der Amtseinführung von Donald Trump wäre die Nichterreichbarkeit Europas, mit der Peter Sloterdijk seine Erkundung des "Kontinents ohne Eigenschaften" beginnt, womöglich sogar eine gute Nachricht. Und doch wird Europa – so Sloterdijks Imperativ – nicht darum herumkommen, seine eigene Position und Erreichbarkeit zu stärken.

Sloterdijk möchte Europa wachrütteln, es aus seiner Eigenschaftslosigkeit erlösen. Damit knüpft er an seinen Essay "Falls Europa erwacht" aus dem Jahr 1994 an, doch viel scheint sich seit damals nicht verändert zu haben. Noch immer dominiert die Interesselosigkeit der Europäer an Europa. Was Europa prägt, ist eine postkoloniale Europa-Skepsis, ja gar eine "Europhobie". Sloterdijks Diagnose lautet: "Das Europa, das wir auf Anhieb erkennen, entstand in dem Moment, in dem es sich zu missfallen begann."

Das gilt für das gespaltene Europa nach 1945, aber mehr noch für das Europa der Gegenwart, das neben aller nötigen Selbstkritik den positiven Bezug auf Stärken, Leistungen und Traditionen verloren hat. Selbst ein bürokratischer Apparat wie die EU böte Anlass zu Selbstbewusstsein, gab es doch ein derartiges politisches Gebilde als Staatenverbund noch nie. Das ist etwas, worauf man sich historisch berufen kann.

Das Europa, das wir auf Anhieb erkennen, entstand in dem Moment, in dem es sich zu missfallen begann.

Der europäische Raum als Theaterbühne

Schon 1994 beschrieb Sloterdijk den europäischen Raum als eine Theaterbühne, auf der immer wieder aufs Neue das Stück der Reinszenierung des römischen Reiches gegeben wird. Rom ging dieser Lesart nach nie zugrunde, sondern wurde immer wieder als Imperium neu aufgeführt. Das europäische Drama bestand darin, dass der Kontinent zu klein ist, um mehrere Imperien nebeneinander zu beherbergen. Daraus resultierten die Kriege rivalisierender Mächte, der Imperialismus und Kolonialismus. Inzwischen sind die USA zur Bühne der Re-Inszenierung geworden. Washington ist die architektonisch sichtbar gewordene Wiederaufführung des alten Roms mit dem Kapitol als Zentrum, während Europa mit der EU einen anderen Weg einschlug.

Bildung - ein europäisches Prinzip, das es zu verteidigen gilt

Positiv kann sich der europäische Kontinent vor allem auf das Prinzip Bildung berufen. Völker sind "Erfolgsräume von Sprachen", sagt Sloterdijk. Das spezifisch Europäische besteht jedoch darin, eine "langfristige Lerndynamik" und damit eine "kognitionsgeschichtliche Singularität" entwickelt zu haben. Etwas schlichter könnte man auch vom Wissenschafts- und Erkenntnisfortschritt sprechen. Urvater des Bildungsprinzips ist demnach Amos Comenius, der aus der böhmischen Brüderbewegung stammt, und im 17. Jahrhundert den Grundsatz formulierte: "Die ganze Welt ist eine Schule", in der alle Menschen als Lernende und Lehrende vereinigt sind. Das ist in der Tat ein großartiges Prinzip, das es zu verteidigen gilt.

Viel Leerlauf und selbstverliebte Geschwätzigkeit

Der Untertitel "Lesezeichen im Buch Europa" ist metaphorisch aber auch ganz konkret zu verstehen. Sloterdijk liest die Geschichte wie ein Buch, greift dann aber einzelne Bücher aus der europäischen Geistesgeschichte heraus, in die er seine "Lesezeichen" als Interpretationsvorschläge einlegen möchte. Das wirkt in der Auswahl eher beliebig. Er befasst sich mit Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes", dessen Thesen er zurückweist, beschäftigt sich hingebungsvoll mit Eugen Rosenstock-Huessys "Out of Revolution", eher er in einem Bekenntnis, Beichte und Kritik wieder in den europäischen Kontext zurückkehrt. Allerdings lässt sich darüber streiten, ob es sich dabei tatsächlich um spezifisch europäische Denk- oder Empfindungsweisen handelt. Wichtig sind weniger die Einzelheiten als der Grundimpetus des Buches: Europa möge sich selbstbewusst aufs Eigene besinnen, ohne in Selbstkritik unterzugehen.

Neben interessanten Passagen, z.B. über den britischen Imperialisten Cecil John Rhodes und die Parallelität von Imperialismus und Telekommunikation oder über den Zusammenhang von Schiffsverkehr und Globalisierung gibt es viel Leerlauf und selbstverliebte Geschwätzigkeit. Da muss man durch. Die zahlreichen Anregungen und Lektürehinweise entschädigen dafür reichlich.

Jörg Magenau, radio3

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