Das Mädchen mit der Nadel © MUBI
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Düsteres Drama - "Das Mädchen mit der Nadel"

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Eine junge Frau wird ungewollt schwanger, möchte ihr Kind zur Adoption freigeben und gerät dabei in die Fänge einer Kindsmörderin. In Magnus von Horns "Das Mädchen mit der Nadel" vermischen sich True Crime, Horror und Sozialdrama zu einer düsteren Tragödie. In dem Oscar-nominierten Film überzeugen sowohl die beiden Hauptdarstellerinnen als auch die expressionistische Schwarz-Weiß-Ästhetik von Kameramann Michal Dymek.

Kopenhagen, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs: Karoline (Vic Carmen Sonne) wird aus ihrer Wohnung geworfen, weil sie seit Monaten keine Miete mehr bezahlt. Ihr Gehalt als Näherin in einer Fabrik reicht nicht aus und auf einen Witwenzuschlag hat sie keinen Anspruch, obwohl Ehemann Peter (Besir Zeciri) seit über einem Jahr verschollen ist. Als letzten Ausweg lässt sich Karoline auf eine Affäre mit dem Fabrikbesitzer Jørgen (Joachim Fjelstrup) ein. Dieser, so ihre Hoffnung, könnte sie aus ihrem Elend erlösen.

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Die Zeiten sind hart, die Menschen ebenfalls

Magnus von Horns Film "Das Mädchen mit der Nadel" beginnt wie ein Sozialdrama aus den Anfangstagen des 20. Jahrhunderts: Die Zeiten sind hart, die Menschen sind es ebenfalls – und das Schicksal zeigt sich unbarmherzig. Als Karoline von Jørgen schwanger wird, nimmt der sie nicht etwa zur Frau, wie er es versprochen hat, sondern wirft sie stattdessen raus. Nun hat sie weder eine Wohnung noch einen Job, aber ein ungewolltes Kind am Bein.

Da sie auch den richtigen Zeitpunkt für eine Abtreibung verpasst hat, schreitet Karoline in der öffentlichen Badeanstalt mit einer Stricknadel selbst zur Tat. Doch das Werkzeug, das ihr als Näherin gute Dienste geleistet hat, versagt diesmal seinen Dienst ...

Ein düsterer Engel

Die Frau, die Karoline schließlich zur Seite springt, beruht auf einem historischen Vorbild: Dagmar Overby (Trine Dyrholm) ist in der dänischen Kriminalgeschichte berühmt- berüchtigt als zigfache Kindsmörderin. Das aber weiß Karoline zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie ist einfach nur froh über die angebotene Hilfe und glaubt Dagmars Versprechungen, gegen eine kleine Gebühr werde sie Karolines Tochter als Adoptivkind in eine wohlhabende Familie vermitteln. Die beiden Frauen freunden sich sogar an und Karoline beginnt, als Amme für Dagmars Tochter Erena (Awa Knox Martin) zu arbeiten. Bis sie eines Tages durch Zufall die Wahrheit über Dagmars "Adoptionen" erfährt.

Vermischung von wahrer Crime-Story und fiktivem Schicksal

Mit der Vermischung der wahren Crime-Story von Dagmar Overby und dem fiktiven Schicksal der jungen Karoline ist Magnus von Horn ein geschickter Schachzug gelungen. Nicht die vielfache Kindsmörderin steht im Zentrum seines Films, sondern eines ihrer Opfer – und so versteht man auch die gesellschaftlichen Umstände, die eine solche Mordserie überhaupt erst möglich gemacht haben.

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Kein Raum für Farben

Der polnische Kameramann Michal Dymek hat die adäquaten Bilder für Horns Tragödie gefunden: In einer Welt, in der verstörende Schicksale an jeder Ecke aufeinandertreffen, gibt es keinen Raum für Farben. Stattdessen führt Dymek in kontrastreichen schwarz-weiß-Bildern durch das Drama, in beklemmenden Interieurs und auf dunklen Straßen. Das erinnert mal an die Ästhetik der Stummfilmzeit, mal an frühe Horrorfilme und manchmal auch an spätexpressionistische Filme der 1920er-Jahre.

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Kein Trost trotz eines zaghaften Happy Ends

"Das Mädchen mit der Nadel" ist ein düsterer Film, der trotz eines zaghaften Happy Ends nur wenig Trost bietet. Nicht aus Mordlust oder Habgier wird Dagmar Overby zur Täterin, sondern weil sie glaubt, der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen. Trauriger und eindrücklicher ist die Geschichte einer Kindsmörderin wohl selten erzählt worden.

Carsten Beyer, radio3

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