Nell Zink: Avalon © Rowohlt
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Roman - Nell Zink: "Avalon"

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König Artus zog sich der Legende nach auf die mythische Apfelinsel "Avalon" zurück, um seine Wunden zu heilen. In Nell Zinks neuem Roman sind Fantasyromane und ein Touristenkaff namens "Avalon" die Rettung für die Erzählerin.

Es gibt Avalon wirklich. Ein Touristenkaff auf der Insel Santa Catalina vor Los Angeles in Kalifornien trägt diesen Namen. Die einzig schöne Kindheitserinnerung, die der Erzählerin Brandy, genannt Bran, geblieben ist, spielt dort. Einst unternahm sie mit ihrer Mutter einen Ausflug nach Avalon. Geblieben sind ihr als junge Erwachsene nur Erinnerungen und drei Fantasyromane, die die Mutter zurücklässt, als sie sich kurz nach dem Ausflug in ein tibetisch-buddhistisches Kloster zurückzieht: "Der König auf Camelot", "Flammender Kristall" und "Taran und das Zauberschwert".

Die früheste eigene Kindheitserinnerung von Bran ist, "wie weich sich der Staub auf der Unterseite einer langen rechteckigen, zentimeterdicken Stahlplatte anfühlte (…) die auf der Bourdon Farm gegen die Schlackenbetonwand eines Düngemittelschuppens lehnte."

Bran hockte als kleines Kind hinter dieser Stahlplatte, aber sie erinnert sich nicht mehr, ob sie dort spielte oder sich versteckte. "Das meiste, was ich weiß, stammt aus zweiter Hand."

Die Frau ohne Eigenschaften

Bran ist eine junge Frau, die ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus Haaren und ihren Körper in weiten Holzfällerhemden versteckt. Eine Frau ohne Eigenschaften und Identität. Ausgestattet mit nebulös-dürftigen Kindheitserinnerungen, verlassen von der Mutter, den Vater nie kennengelernt, lebt sie beim unberechenbaren Ex ihrer Mutter und dessen Clan auf der Bourdon-Farm. Noch dazu hat Bran hat weder Pass noch Sozialversicherungsnummer, Krankenversicherung oder Führerschein und ist damit ähnlich unsichtbar und offiziell nicht existent wie die illegalen Einwanderer, die sich als Saisonkräfte auf der Farm verdingen, vom rassistischen Patriarchen nur "Eric", "Roger" und "Simon" genannt.

Bran ist also dazu gezwungen, sich ihre Identität selbst erst zu erschaffen und sich zu erfinden. Diese Ausgangslage ist spannend und Bran eine der auf verstörende Weise originellsten Romanfiguren der letzten Zeit.

Allein unter Männern im Hillbilly-Universum

Die Voraussetzungen für Bran und ihre Identitätsfindung aber sind denkbar schlecht. Sie lebt maximal bildungsfern unter allein unter Männern, Hillbillys und Rocker auf Motorrädern, die saufen, sexistische Sprüche klopfen und in kriminelle Machenschaften verstrickt sind. Bran muss ohne Bezahlung in der Baumschule schuften, sich selbst versorgen und in einem lieblosen Anbau hausen. Sie kennt nichts anderes und nimmt dieses Leben hin, ohne die Vision eines alternativen Lebens entwickeln zu können. Bis sie auf der Highschool in eine Clique aus wohlhabenderen und gut behüteten Kids gerät und später Peter kennenlernt, einen Intellektuellen von der Ostküste. Bildung ist der Ausweg für Bran aus ihrem toxischen Lebensumfeld.

Bildung als Ausweg

Diese Bildung ist für die finanziell Mittellose aber nicht auf dem klassischen Weg zu haben. Stattdessen imitiert sie ihre Freunde, nimmt an deren Leben teil und lässt sich von Peter mit Literatur und endlosen Vorträgen zu Kapitalismuskritik und Theorien zum Faschismus versorgen. Er nennt sie Branwen, wie das Aschenputtel aus der König Artus Sage, und gefällt sich in seiner Rolle als ritterlicher Retter. Sie durchschaut ihn, sieht durch ihn aber auch einen Ausweg.

"Ich weinte, schickte mich in meine neue Lage. Es war nicht die alte Lage. Er hatte mich dauerhaft entwurzelt, ich rastete auf dem Weg zum Umtopfen."

Er begehrt sie zwar, verlobt sich aber lieber mit einer Tochter aus reichem Hause, denn er will schließlich Karriere machen.

Satire und Gesellschaftskritik

Nell Zink spielt in "Avalon" mit Motiven aus klassischen Liebesromanen und Ritterromanzen. Gleichzeitig kann der Roman als klassische Coming-Of-Age-Geschichte gelesen werden. "Avalon" ist aber auch eine beißende Satire auf die Klassengesellschaft in den USA und Kritik am dortigen Bildungssystem, in dem Menschen wie Bran ohne Geld und familiäre Unterstützung kaum Chancen haben. Während Menschen wie Peter sich immer mehr in ihrer theoretischen akademischen Selbstbespiegelungs-Blase einrichten und Leute wie Brans bester Freund Jay sich talentlos, aber familiär ermutigt künstlerisch ausprobieren können. Diese Identitäts-Suche treibt Nell Zink genüsslich ironisch auf die Spitze.

Das Lustige ist: während die Menschen um Bran herum alle möglichen immer absurderen Anstrengungen unternehmen, sich selbst und ihre Identität immer wieder neu zu finden und ihre intellektuelle wie pseudo-intellektuelle oder künstlerische Ader auszuleben, macht Bran einfach. Sie beschließt irgendwann, dass sie nun Drehbuchautorin ist.

Überhaupt stecken viel Ironie und Witz in diesem Roman, der viele Ebenen und Erzählformen hat. Mal Highschool und College-Parodie, mal Thriller und Traumabewältigung, und immer ein Ritt durch Anspielungen und Referenzen auf Werke der Philosophie und Literatur, bis hin zur seitenlangen Nacherzählung von Brans Kurzfilm-Drehbüchern.

Nell Zink, die erst mit über 50 mit dem Schreiben von Romanen angefangen hat, gehört zu den originellsten und gesellschaftskritischen Autor:innen der USA. "Der Mauerläufer" wurde dort 2014 als bestes Debüt des Jahres gefeiert, gleich ihr zweiter Roman "Virginia", der sich mit Rassismus, Identitätsdebatten und Klasse auseinandersetzt, war für den National Book Award nominiert. In ihrem letzten Roman "Das Hohe Lied" beschäftigte sie sich mit den Folgen von 9/11 und Donald Trump. Inzwischen hat Nell Zink – die seit über 20 Jahren in Bad Belzig in Brandenburg lebt – sechs Bücher veröffentlicht. Auch "Avalon" besticht wieder durch Originalität und bösen, oft abseitigen Humor.

Nicht für jeden etwas

"Avalon" wird nicht für jeden etwas sein. Das Buch ist schräg, aber vielschichtig und klug. Am Ende, nachdem Bran in einer Art Groschenroman-Persiflage mit ihrem alten Mazda Richtung Paradies und Geliebtem geritten ist, gibt es den Moment der völligen Emanzipation, eine Tür öffnet sich – nur: gibt es diesen Moment, gibt es eine Emanzipations- und Selbstermächtigungsgeschichte wie die von Bran tatsächlich heute noch oder ist sie nichts als ein romantisch verklärtes Ideal – so wie das der Liebe in Ritterromanzen?

Nell Zink spielt mit Motiven aus Fantasy- und Rittermythen, Popkultur und Liebesromanen und erzählt eine ganz eigenwillige Geschichte im Amerika der Gegenwart.

Nadine Kreuzahler, rbbKultur

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