Norbert Gstrein: Mehr als nur ein Fremder © Hanser Verlag
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Essays - Norbert Gstrein: "Mehr als nur ein Fremder"

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Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein, Jahrgang 1961, gilt als eleganter, anspruchsvoller Stilist. Für seine Romane - zuletzt "Der zweite Jakob" und "Vier Tage, drei Nächte" - hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Jetzt legt er einen Band mit Essays vor, in denen er zum ersten Mal Auskunft über sein eigenes Schreiben, sein Werk und die Leküren seines Lebens gibt.

Das Autobiografische ist eine Falle, der es auszuweichen gilt. Wenn Schriftsteller aber über ihre Poetik sprechen und schreiben, kommen sie nicht umhin, damit auch über sich selbst Auskunft zu geben. Worin wäre denn mehr von ihnen zu entdecken, als in ihrem Schreiben? Gar nicht unbedingt in dem, WAS sie erzählen, als darin, WIE sie es tun.

Aus der Erfahrung heraus schreiben

Norbert Gstrein zitiert dazu in seinen Essays über Literatur und über sich selbst Gottfried Benn. "Stil ist der Wahrheit überlegen", meinte Benn, "er trägt in sich den Beweis der Existenz." Wenn also die Tonlage einer Erzählung nicht stimmt, dann, so Norbert Gstrein, gerät alles in Schieflage, auch wenn die Fakten stimmen. Voraussetzung des Gelingens ist ein Erzähler, der sich zu seiner eigenen Geschichte ins Verhältnis setzt und der seine Rolle mitreflektiert. Das gilt natürlich umso mehr für den Autor selbst, der weiß, dass er aus eigenen Erfahrungen heraus schreibt. Norbert Gstrein folgt dabei jedoch der Maxime, über das eigene Leben so zu schreiben, als wäre es das Leben eines anderen, über andere aber so, als wäre es das eigene.

Identität als Fiktion

Sein Essayband, in dem es unter anderem um Thomas Mann, Kafka, Hölderlin, aber auch um William Faulkners Ringen mit dem Rassismus, um James Baldwin, Toni Morrison und die schwarze amerikanische Literatur geht, wird deshalb von zwei kurzen autobiografischen Texten eingerahmt. Zu Beginn schreibt Gstrein darüber, dass er als Kind im Tiroler Dorf seiner Herkunft "Schmule" genannt wurde und versucht im Nachhinein zu verstehen, warum ihn das instinktiv so sehr geärgert hat. Als Kind war ihm nicht klar, dass Schmule eine veraltete Bezeichnung für "Jude" gewesen ist. Wussten es die, die ihn so nannten? In welchen Abgrund des Antisemitismus müsste er dann blicken?

Auf vertrackte Weise nähert Gstrein sich damit der Frage der Identität, der Zuschreibungen, der Herkunft. So auch in dem Stück, mit dem er den Band abschließt und das davon handelt, wie er es als Sohn eines Hoteliers, der im Hotel aufwuchs, immer versuchte, es allen Gästen recht zu machen und ihren Erwartungen zu entsprechen – eine Haltung, die ihm in Fleisch und Blut überging bis zur Selbstverleugnung. Er erzählte den Leuten immer das, was sie hören wollten und gab sich als der, den sie in ihm sahen. Identität als Fiktion also, das Authentische als raffinierte Erfindung: nicht die verkehrteste Voraussetzung für einen, der zum Schriftsteller wurde.

Logik als Basis des Schreibens

Dabei war dieser Weg zunächst alles andere als geplant. Gstrein studierte Mathematik, fühlte sich als mathematisches Genie und war fasziniert von der Stringenz und Klarheit mathematischer Beweise. Wenn sein Professor in Innsbruck lange Zahlenreihen an die Tafel schrieb, entdeckte er die "Schönheit, die im augenblicklichen Verstehen lag, aber auch im momentanen Nichtverstehen, fast wie bei manchen Gedichten".

Was ihm davon blieb, nachdem er "aus der Mathematik herausgefallen" und "in die Literatur hineingescheitert" war, ist die Ausrichtung auf Logik als Basis des Schreibens und ein Misstrauen gegenüber falscher Gefühligkeit. "Das Sentimentale", so Gstrein, "ist der Gefühllosigkeit immer näher als der Verstand."

Das Mathematische als poetisches Prinzip

So ausgerüstet kann sich Gstrein dann auch Autoren wie Thomas Mann nähern und damit der Kraft des Dämonischen, der der Tonsetzer Adrian Leverkühn in "Dr. Faustus" im Pakt mit dem Teufel begegnet. Näher aber liegt Kafka, dessen Roman "Das Schloss" von Gstrein nicht psychologisch oder soziologisch gelesen wird, sondern auf der Suche nach "den mathematisch-logischen Gesetzen, die diese Welt mit ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten regieren und ihre Schönheit ausmachen, ihre Klarheit bei aller Düsternis, ihre erschreckende Klarheit oft."

In der Auseinandersetzung mit Kafka bewährt sich das Mathematische als poetisches Prinzip. Darin wird dann auch der Stilist Norbert Gstrein kenntlich, der seine Romane – und auch darüber erfährt man eine Menge in diesem lehrreichen Buch – mit mathematischer Präzision konstruiert.

Jörg Magenau, rbbKultur