Volker Braun: Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben © Suhrkamp
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Prosaband - Volker Braun: "Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben"

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In der DDR gehörte Volker Braun zu den skeptischen Begleitern und Beobachtern des Sozialismus. Seit der Wende richtet sich sein Skeptizismus gegen die globale kapitalistische Ökonomie. Vor allem aber ist der Büchnerpreisträger des Jahres 2000 einer der großen deutschen Lyriker und Dramatiker. Seinen 85. Geburtstag feiert er mit - wie könnte es anders sein - einem neuen Buch.

Der Gewalten sind viele: Staatsgewalten, Naturgewalten, höhere Gewalten, die Gewalt der Liebe und die Gewalt der Worte. Der Dichter und Dramatiker Volker Braun, der am 7. Mai 85 Jahre alt wird, hat in seinem Leben genug Erfahrungen mit diesen Kräften gesammelt, um unter dem Titel "Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben", nun ein poetisches Resümee, eine Lebensbilanz zu ziehen. Aus sozialistischer Perspektive, die ihn zu DDR-Zeiten zu einem skeptischen Beobachter der realsozialistischen Funktionärsherrschaft werden ließ, rückt er seither der globalisierten Warenwelt zu Leibe. Standhaft sucht er nach Formen des Dichtens und Denkens, die er der kapitalistischen Gegenwart entgegenstellen könnte.

Lektürebericht, Gespräch und fortwährender Denkprozess

Die Prosa, die dabei entsteht, ist Lektürebericht, Gespräch und fortwährender Denkprozess, bei dem mit den spielerisch aus ihren Verankerungen gehebelten Wörtern auch die Verhältnisse in Bewegung geraten. Dabei bezieht Braun sich zunächst auf den argentinischen Dichter Sergio Raimondi, der in der Hafenstadt Bahia Blanca Gedichte auf Häuserwände schreibt, auf den jungen Leipziger Politologen Moritz Rudolph, der den Zug der Lachse zurück an ihre Laichplätze mit Hegels "Weltgeist" in Zusammenhang bringt, auf die Lyrikerin Ann Cotton und die DDR-Dichter Wolfgang Hilbig und Franz Fühmann, mit denen Braun in die Erdtiefen der Bergwerke vordringt. Im Gefolge der Warenströme durchmisst er Weltmeere und die Weite Chinas, Wasser, Luft und vulkanisches Gestein.

Brauns Sichtung der Gewalten beginnt mit der "Urszene", dem Blick auf seine kriegszerstörte Geburtsstadt Dresden, und führt von dort zum Braunkohletagebau im Gaskombinat "Schwarze Pumpe", wo er 1959 als Rohrverleger oder vielmehr, wie er schreibt, als "der letzte Dreck im Dreck" arbeitete. Auch die Angst des jungen Dichters, der bei einer Lesung in der DDR die Stasi-Mithörer fürchtete, ist eine Form der Gewalt, obwohl Braun nach der Wende in seinen Stasiakten dann bloß die Notiz vorfand: "Er las unverständliches Zeug."

Die Wendezeit, als das Volk mit der Parole "Keine Gewalt" demonstrierte, erlebte er als unglücklich Verliebter, dem die Gewalt der Liebe mehr zusetzte als der Niedergang der revolutionären Hoffnungen.

Fiktive, wahrhaftige Auseinandersetzung mit dem marxistischen Philosophen Wolfgang Fritz Haug

Im Zentrum des Buches steht jedoch ein umfangreiches, so fiktives wie wahrhaftiges Gespräch mit dem marxistischen Philosophen Wolfgang Fritz Haug, mit dem Braun seit Langem befreundet ist. Die Gesprächsform ist ihm als Dialektiker sowieso am nächsten, weil in Rede und Gegenrede die Positionen in Bewegung geraten. Haug, seit Jahrzehnten mit der Herausgabe des "historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus" befasst, tritt als "Enzyklop" auf, als "Begriffsstutzer" und "Wortesurfer". Allerdings sind ihm gerade die Zwiebeln im eigenen Garten wichtiger als die lexikalische Zielperspektive mit Z wie "Zentrifugalkraft" oder "Zynische Vernunft". Der "Enzyklop" ist der Einäugige unter den Blinden. Er ist auch für den Ich-Erzähler Volker Braun und eine im Text auftauchende junge Frau namens Sophie als Vertreterin der "Letzten Generation" ein Lehrmeister.

Im Gespräch geht es um das Verhältnis zur Natur, die der "Enzyklop" schon deshalb für unzerstörbar hält, weil der Mensch alles, was er tut, mit und innerhalb der Natur tut. Er ist Teil der Natur, auch wenn er seine Lebenssphäre zerstört. Diese Position hat Braun fast wörtlich einem Vortrag von Wolfgang Fritz Haug entnommen, in dem er sich mit dem amerikanischen Soziologen Jason Moore auseinandersetzt. Mit Moore und mit Marx möchte Haug – und mit ihm Volker Braun – ein neues Verhältnis zur Natur und eine "Philosophie der Praxis" begründen, in der es nicht darum geht, dass der Mensch die Dinge als Objekte bearbeitet, sondern sich selbst in einem Wirkungszusammenhang mit allem Seienden begreift. Natur ist ja nicht einfach etwas da draußen, was es zu retten gilt. Natur ist auch und zuallererst der Mensch selbst.

Beschreibung der Verhältnisse

Am Ende einigen sich Dichter und Philosoph darauf, dass sie nicht wissen, wohin das alles führen wird. "Wir wissen es nicht, wir beschreiben es", sagt Braun. Damit variiert er eine Formel, mit der er sich einst in der DDR gegen die Zensur zur Wehr setzte. Damals hieß es: "Ich kritisiere es nicht, ich beschreibe es." Beim Beschreiben der Verhältnisse ist Braun also geblieben. So viel hat sich nicht verändert während seines fortgesetzten Versuches, mit Gewalten zu leben.

Jörg Magenau, radio3