Das Wort "Zweifel" steht in Neon-Buchstaben auf dem Dach des ehemaligen Palastes der Republik in Berlin © dpa/Jens Kalaene
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Die Debatte mit Natascha Freundel, Ilko-Sascha Kowalczuk und Dirk Oschmann - Das Reden der Anderen - die neue Ost-West-Debatte

"Mal so undifferenziert über den Westen sprechen, wie der Westen seit über 30 Jahren über den Osten spricht." Dirk Oschmann

Seit Wochen steht Dirk Oschmanns Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch. Die Fakten darin seien nicht neu, erklärt er. Neu sei sein "Ton als Tonstörung": "zorngesättigt und frei" schreibt der Leipziger Literaturprofessor über eine systematische "Stigmatisierung", "Pathologisierung" und "Ausgrenzung" Ostdeutscher durch Westdeutsche.

In jedem gesellschaftlichen Bereich sieht Dirk Oschmann ein massives Machtgefälle und behauptet, Ostdeutsche hätten kaum Chancen zur demokratischen Mitgestaltung. Deshalb sei jetzt "Auge um Auge" angesagt. Ilko-Sascha Kowalczuks Studie "Die Übernahme" von 2019 ist für Oschmann eines der "wichtigsten Bücher zur innerdeutschen Frage". Beide Autoren sind 1967 in der DDR geboren und aufgewachsen. Beide diagnostizieren: "Herabwürdigung wurde zur Staatsräson" (Kowalczuk). Hier sprechen sie zum ersten Mal öffentlich miteinander.

Beginnt nun, bald 35 Jahre nach dem Mauerfall, ein neues Nachdenken und Sprechen über Ost-West-Deutschland?

Ich gebe auch zu, dass es sicher die schwache Seite des Buches ist, dass es so gedeutet werden kann, als wäre der Osten hier vollkommen aus der Verantwortung genommen. Das ist eine Entscheidung gewesen, es so auszurichten in dieser Zuspitzung, dieser vereinfachenden Schematisierung. Vielleicht war das Risiko zu groß. Ich fand es aber in dem Moment wichtig, das so zu machen, weil jede Art von Ausgewogenheit aus meiner Sicht bedeutet hätte, die Wucht des Buches einzuschränken. Was jetzt in der Debatte zum Vorschein kommt, ist die Heterogenität des Ostens. In den vielen Reaktionen zeigt sich der Osten in seiner ganzen multiperspektivischen Vielstimmigkeit. Das ist für mich eine unglaublich hilfreiche und interessante Erfahrung. Und es könnte ja vielleicht auch eine Erfahrung für den Westen sein, den Osten nicht einfach immer nur als homogenen, in sich nicht-differenzierten Block wahrzunehmen.

Dirk Oschmann

Wenn ich das als Wissenschaftler, als Intellektueller anschaue, dann muss ich schon sagen: Also wenn wir über benachteiligte ostdeutsche Männer reden, dann reden wir auch über bestimmte Bildungsprofile. Dann reden wir auch über bestimmte regionale Herkünfte. Dann reden wir eben nicht über Leipzig oder Jena oder Ost-Berlin. Und das ist meine immer wiederkehrende Kritik an der aktuellen Debatte: Ich verstehe den Zorn. Ich verstehe die Wut. Und trotzdem ist es unsere Aufgabe als öffentliche Intellektuelle, doch für mehr Differenziertheit und Sachlichkeit zu sorgen.

Ilko-Sascha Kowalczuk
Dirk Oschmann (© Jakob Weber) und Ilko-Sascha Kowalczuk (© Ekko von Schwichow)
Dirk Oschmann und Ilko-Sascha Kowalczuk | Bild: Jakob Weber | Ekko von Schwichow

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Dirk Oschmann, geboren 1967 in Gotha, ist seit 2011 Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Er studierte in Jena Germanistik, Anglistik und Amerikanistik auf Lehramt, hat über Siegfried Kracauer promoviert und sich mit einer Arbeit über Lessing, Schiller und Kleist habilitiert. Forschungsreisen und Gastprofessuren führten ihn an Universitäten in den USA und Großbritannien. Sein Bestseller „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ (Ullstein 2023) geht auf seinen Artikel in der FAZ zurück: „Wie sich der Westen den Osten erfindet“ (4.2.2022).

Ilko-Sascha Kowalczuk, geboren 1967 in Berlin-Friedrichshagen, ist Historiker und Publizist sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung der Wissenschaften und Kultur. Von Abitur und Studium in der DDR ausgeschlossen, studierte der ab 1990 Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er ist einer der renommiertesten deutschen Experten für die Geschichte der DDR und des Kommunismus. Zu seinen wichtigsten Büchern gehört „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (2019). Am 13. Juli 2023 erscheint sein neues Buch: „Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist“ (beide C.H. Beck)

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Debatte mit Natascha Freundel & Gästen - Der Zweite Gedanke

Hier wird nicht nur debattiert, hier wird auch zusammen nachgedacht. Über alles, was unser Miteinander betrifft. Bildung, Digitalisierung, Demokratie, Einsamkeit, Freiheit, Klima, Kultur, Städtebau, Visionen - die Themen liegen in der Luft, nicht erst, aber besonders deutlich seit der Corona-Pandemie. Jede Folge widmet sich einer Frage unserer Zeit. radio3-Redakteurin Natascha Freundel spricht jeweils mit zwei Gästen, die wissen, wovon sie reden. Philosophisch, aber nie abgehoben. Persönlich, aber nicht privat. Kritisch und konstruktiv. Hier soll es nicht knallen, sondern knistern. Immer auf der Suche nach dem zweiten, neuen Gedanken.