Wahl zum polnischen Parlament © picture alliance/ NurPhoto/ Beata Zawrzel
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Die Debatte mit Ann Kristin Schenten, Karolina Wigura und Thomas Urban - Polen wählt Europa

"In Polen wird jetzt Geschichte geschrieben." (Karolina Wigura)

Im Oktober 2023 gingen hunderttausende Polen in Warschau auf die Straße und forderten einen Regierungswechsel. Knapp drei Wochen später ist diese Wende wohl die neue polnische Realität: Die PiS-Regierung wurde nach acht Jahren abgewählt. Donald Tusk hat mit seinem liberal-demokratischen Oppositionsbündnis die Mehrheit erreicht. Für die polnische Soziologin Karolina Wigura und den deutschen Osteuropa-Korrespondenten Thomas Urban ein Lichtblick, ein Scheitern der „illiberalen Demokratie“. Doch die nationalistische PiS hat sich tief in die polnische Gesellschaft, die Politik und die Justiz gegraben. Welche Chance hat das neue Bündnis?

An dieser Wahl haben mehr junge Wähler teilgenommen als ältere Wähler. Das finde ich sehr wichtig. Die sind in den sozialen Medien oft ironisch und witzig. Vor der Wahl hat man auf verschiedenen Veranstaltungen der PiS gehört: 'Tusk nach Berlin, nach Berlin.' Ich lese jetzt, dass die jungen Menschen in den sozialen Medien schreiben: 'Herr Kaczyński: Auf Wiedersehen.' Das ist eine Antwort auf diese wirklich lächerliche antideutsche Propaganda. Daran sieht man, dass es auch ein weitverbreitetes Potenzial für eine Normalisierung der Beziehungen gibt.

Karolina Wigura

Man darf nicht vergessen, dass Tusk der liberale Flügelmann einer konservativen Partei ist. Die Bürgerplattform ist wirtschaftsfreundlich und pro-europäisch, aber weltanschaulich würde ich sie in Deutschland bei dem konservativen CDU-Flügel oder der CSU verorten. Wenn die Koalition sich zusammenfindet, wofür die Zeichen momentan stehen, ist die Geschäftsgrundlage, die PiS abzulösen. Dann warten aber große innere Konflikte auf sie, gegen die die Streitereien in der deutschen Ampel-Koalition wahrscheinlich nur eine Kleinigkeit sind.

Thomas Urban
Karolina Wigura (© Wikimedia commons CC BY-SA 4.0) und Thomas Urban (© E. Mormul)
Karolina Wigura und Thomas UrbanBild: Wikimedia commons CC BY-SA 4.0 || E. Mormul)

Gäste

Thomas Urban, geboren 1954 in Leipzig, war 24 Jahre lang Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, mit Stationen in Warschau, Moskau und Kiew. Ab 2012 war er SZ-Korrespondent in Madrid. Er hat Kriegsschauplätze in Abchasien, Karabach, Moldawien und Tschetschenien bereist. Während seines Studiums der Slawistik und Romanistik in Köln war Urban Mitarbeiter am Institut des Sowjetdissidenten Lew Kopelew. Er verfasste zwölf Bücher zur osteuropäischen Zeitgeschichte sowie über russische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, darunter Nabokow, Ehrenburg, Gasdanow, Pasternak und Agejew. Sein Buch "Verstellter Blick“ ist eine Analyse von Fehleinschätzungen der deutschen Ostpolitik (edition fototapeta, 2022). Im September 2023 erschien sein neustes Werk "Lexikon für Putin-Versteher" (edition fototapeta, 2023). Urban lebt unweit von Warschau.

Prof. Karolina Wigura, geboren 1980 in Warschau, ist Ideenhistorikerin, Soziologin und Journalistin sowie Mitglied des Verwaltungsrats der Stiftung Kultura Liberalna in Warschau und Senior Fellow des Zentrums Liberale Moderne (LibMod) in Berlin. Wigura studierte Sozialwissenschaften, Philosophie und Politikwissenschaften an den Universitäten München und Warschau. Ihre zentralen Themen sind politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, Emotionen in der Politik und die Ethik der Erinnerung. Sie ist Autorin von "Wina narodów: przebaczenie jako strategia prowadzenia polityki" ("Die Schuld der Nationen: Vergebung als Strategie der Politik" – Józef-Tischner-Preis 2012) und "Wynalazek nowoczesnego serca. Filozoficzne źródła współczesnego myślenia o emocjach" ("Die Erfindung des modernen Herzens. Philosophische Quellen des zeitgenössischen Denkens über Emotionen" – Nominierung für den Tadeusz-Kotarbinski-Preis 2020). Ihre Texte veröffentlichte sie u.a. in The Guardian, The New York Times, Neue Zürcher Zeitung, Gazeta Wyborcza und anderen Zeitschriften. Ihr Buch (mit dem konservativen und katholischen Intellektuellen Tomasz Terlikowski) "Polka ateistka kontra Polak katolik" (Polin-Atheistin vs. Pole-Katholik) war 2022 ein Bestseller in Polen. Kürzlich erschien bei Suhrkamp ihr Essay (mit Jarosław Kuisz): "Posttraumatische Souveränität" über die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf Mittel- und Osteuropa.

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