Sachbuch - Liao Yiwu: "18 Gefangene"
Triggerwarnung: Empfindsame Gemüter sollten sich andere Bücher suchen und auch die vorliegende Rezension ersparen. Denn "18 Gefangene" handelt teils sehr unverblümt von Gewalt, Folter, Sex, Hunger, Krankheit und Sterben. Und nicht zuletzt – der Marquise de Sade als Autor von "Die 120 Tage von Sodom" hätte womöglich seine Freude daran gehabt – von Körperausscheidungen aller Art und der Art ihrer Ausscheidung. Allerdings erschöpft sich das Buch darin nicht.
Tatsächlich entfaltet "18 Gefangene" aus der Perspektive von 18 Opfern kommunistischer Herrschaftspraxis ein Panorama politischer Idiotie, menschlicher Grausamkeit und ideologischer Verblendung. Das revolutionäre China – ein modernes Herz der Finsternis.
"Massacre" hieß das Gedicht, mit dem Liao Yiwu im Juni 1989 auf die gewaltsame Niederschlagung der Proteste auf dem Tian'anmen-Platz reagierte. Er wurde dafür zu vier Jahren Haft verurteilt, die er unter anderem in dem Buch "Für ein Lied und hundert Lieder" (2011) darstellt und reflektiert. Es wurde mit Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag" und Fjodor Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem toten Haus" verglichen.
In "18 Gefangene" nun verschriftet Liao Gespräche mit Menschen, die zwischen dem chinesischen Bürgerkrieg (1927 bis 1949) und dem Ende des 20. Jahrhunderts teils für Jahrzehnte inhaftiert waren.
"Schreiben heißt Entgiften"
Auf Liao selbst hatten die Gespräche offenbar eine therapeutische Wirkung. Er betont, einst unter der "Gefängniskrankheit"“ gelitten zu haben: "Weil es so lange keine Gelegenheit zur körperlichen Liebe gibt, sind sexuelle Funktionsstörungen im Gefängnis an der Tagesordnung, und die dadurch hervorgerufene Geilheit, die Lügen und die Gewalt wuchern im fleischlichen Körper, in dem die Hormone verrückt spielen, und wandeln sich allmählich in eine unkontrollierbare Gemütsverfassung extremer Unterdrückung aller Gefühle oder plötzlicher emotionaler Ausbrüche."
Als Liao jedoch begann, sich mit den Traumata anderer Ex-Gefangener zu befassen, wurde seine Gefängniskrankheit "leichter und leichter, bis mit einem Mal Liebe und Mitleid wieder ihren Platz in mir fanden." Oder auf eine Kurzformel gebracht: "Schreiben heißt Entgiften."
Liao erklärt jeweils, wo und unter welchen Umständen er seine Gesprächspartner getroffen hat – teils Jahrzehnte nach deren Haft (und seiner eigenen). Einige Gespräche sind nachträgliche Rekonstruktionen, darunter das mit Fang Naoke, der mit 27 Jahren zum Tode verurteilt wurde, auf die Hinrichtung wartet und grübelt, ob es besser sei, den finalen Schuss in den Hinterkopf zu erhalten oder doch in den Rücken: "Beim Hinterkopf wäre man schnell ausgelöscht, wäre allerdings nicht sehr schön anzusehen, bei einem Dum-Dum-Geschoss wäre die Schädeldecke weg und das Hirn spritzt zumindest ein paar Fuß weit. Justizpolizisten sind aber auch Menschen, werden sie also nicht fürchten, dass sie das Hirn vollspritzt?"
Für den Fall, dass ein Delinquent den Schuss überlebt, wissen sich, so Fang, die praktisch veranlagten Exekutoren zu helfen. Es wird dann "von oben her ein Ast in das Schussloch gesteckt und ein paar Mal herumgerührt, vorbei ist es erst, wenn das Hirn wie Tofupudding rausgluckert."
Grausame Details der Gefangenschaft
Nein, es handelt sich hier im Rahmen von "18 Gefangene" keineswegs um besonders spektakuläre Zitate. Viele Gesprächspartner berichten Liao mit himmelschreiender Nüchternheit über die grausamsten Details ihrer Gefangenschaft. Umgekehrt äußern sich andere – und manchmal auch Liao selbst – ausnehmend zotig und drastisch. Sex mit Hühnern, Sex mit Schweinen, Sex mit einer sadistisch-nymphomanischen Lager-Sekretärin. Eine betäubungsmittelfreie Selbst-Operation, die dem Zweck dient, mittels Implantation von Mausschenkel-Fleisch einen Tumor vorzutäuschen. Der reportagehafte Nachvollzug einer Darmverstopfung, die unter dem Gejohle der Zuschauer am Donnerbalken tagelang anhält, dann aber nicht mehr – "18 Gefangene" schildert wenn man so will, nichts Unerhörtes nicht.
Mindestens leise verwundert darf man darüber sein, dass offenbar alle Gesprächspartner Liaos über bestechende sprachliche Kompetenzen verfügen – und sei es, um das Vulgärste und Widerlichste zu schildern. Liao bekennt sich indessen zur tüchtigen Nachbearbeitung mitgeschnittener Gespräche und seiner Erinnerungen an frühere Gespräche.
Die bedrückende Zeugniskraft des Buches stellt das nicht in Frage. So tief es die Abgründe körperlicher Pein und Lust erforscht, so gewaltig ist der historische Horizont, den es aufreißt, und so entlarvend ist die Dokumentation des revolutionären Treibens, das Millionen Chinesen das Leben gekostet hat – und/aber als blutiges Vorspiel von Deng Xiaopings Reformen ab 1979 Chinas Aufstieg zur Weltmacht den Weg bereitet.
Absurditäten des Unrechts-Regimes unter Mao
Yang Jinian (geb. 1946) wurde als Elfjähriger wegen Diebstahls zu zehn Jahren Haft verurteilt, legte 700mal vergeblich Berufung ein und hinterließ, als er 2002 verarmt bei einem Großbrand in Peking umkam, einen Text von mehreren Millionen Schriftzeichen. In Liaos Fassung erzählt Yang mit nahezu kafkaesker Tendenz von den Absurditäten des juristisch verkleideten Unrechts-Regimes unter Mao.
Gu Zheng, ein Archäologe von Rang, Mitglied der Kommunistischen Partei, Dekan der Geologischen Fakultät seiner Universität, wurde plötzlich zum Spion erklärt und inhaftiert – Gus Geschichte ist ein grotesker Krimi. Herr Zhou wiederum erzählt von der kommunistischen Landreform und vermittelt wie andere den Eindruck, dass die roten Revolutionäre sich im Grunde nur auf eines verstanden: den Hass auf alle zu schüren, die es ein bisschen besser hatten.
Angesichts der Repressionen, unter denen die Protagonisten während der Kulturrevolution gezwungen waren, die "Mao-Bibel" zu studieren, wirkt übrigens die damalige Begeisterung vieler westlicher Linker für dieses Buch umso lächerlicher – und bestenfalls entschuldbar durch Ahnungslosigkeit.
Ein hochaktuelles und brisantes Buch
Viele Gesprächspartner Liaos sind irgendwann in China gestorben, einige konnten entkommen und leben noch. Liao, der selbst seit 2011 in Berlin im Exil lebt, zweifelt nicht daran, dass sich Chinas gegenwärtiger Staatspräsident Xi Jinping über die Köpfe seiner Vorgänger hinweg ideologisch, mental und in puncto Regierungspraxis auf Mao zurückbesinnt – und damit auf ein ungeheuerliches Terrorregime.
Vor diesem Hintergrund ist "18 Gefangene" ein hochaktuelles und brisantes Buch, dem Beschönigung absolut fremd ist. In Anlehnung an einen bekannten Werbe-Slogan ließe sich sagen: Ist es zu stark, bist du zu schwach – für die Wahrnehmung der bitteren chinesischen Realität.
Arno Orzessek, radio3