Roman - Helene Hegemann: "Striker"
Mit dem Fokus auf soziale Probleme hat es Die Linke wieder in den Bundestag geschafft. Der Mietendeckel, Verdrängung, die Abschaffung von Milliardären, kurz: der Klassenkampf - schon immer ein Thema der Partei. Das nun auch die Schriftstellerin Helene Hegemann in ihrem neuen Roman aufgreift. "Striker" - im Sport ein Stürmer, jemand, der angreift - erzählt von einer fanatischen Kampfsportlerin und der Verbindung von arm und reich, von Problembezirken und Villenvierteln.
In diesem Roman wird viel gekämpft – im übertragenen, emotionalen Sinne, aber auch ganz direkt. Wichtige Passagen spielen in einer Kampfsportschule in Berlin. N. ist Kampfsportlerin, gerade bereitet sie sich auf den großen Kampf mit einer schwierigen Gegnerin vor. Schon als Kind hat sie begeistert Boxkämpfe angesehen, und jetzt, im Erwachsenenalter, ist der Kampfsport nicht nur ein großer Halt für sie, sondern auch Lebensphilosophie:
"Kämpfen bedeutet, sich gegenseitig einer kontrollierten Gefahr auszusetzen (…) und abschätzen zu müssen, wie weit man sie und sich selbst fordern kann, ohne dass der Schmerz zu groß oder zu klein wird."
N. ist beides, Schülerin und Trainerin. Sie bringt anderen das Aushalten und Einstecken bei, das Wegducken und die Umleitung von Schwung und Energie.
Zumutungen
Unerbittlich ist dabei nicht nur, wie N. sich dem Schmerz aussetzt, sondern auch der Roman selbst – weil er uns alles schonungslos zumutet. Das Blut, den Schweiß, die Gelenke, die rausspringen und wieder zurückgeschoben werden. Rotzig und direkt, das ist Hegemanns Prinzip. Schon in ihrem Debüt "Axolotl Roadkill" kreiste sie um existenzielle Verlorenheit und um ein Mädchen, das die Mutter an den Suff verloren hat. Auch jetzt, 15 Jahre später, ist die Unbehaustheit Thema.
Für N. verstärkt sich dieses Gefühl, als eines Tages eine junge Frau auftaucht, die ihre Tüten und Sachen auf dem Treppenabsatz abstellt. Die junge Obdachlose nennt sich Ivy und sucht den Kontakt zu N. Das wirft diese vollkommen aus der Bahn. Warum sie vom Auftauchen der Obdachlosen so irritiert ist, ist eine der Spannungskurven des Romans. Denn als trainierte Kämpferin müsste sie die Frau vor ihrer Tür eigentlich nicht fürchten.
Raffinierte Doppelgängergeschichte
Nach und nach entfaltet Hegemann in "Striker" eine raffinierte Doppelgängergeschichte. Die Obdachlose vor der Tür wird eine Art Spiegelbild, ein Alter Ego, die Verkörperung ihrer Ängste. Zum echten Kampf wird nicht der gegen die andere Kämpferin auf der Matte, sondern der gegen die Obdachlose vor ihrer Tür bzw. mit dem, für was sie steht. N. traut sich teilweise kaum noch in ihre Wohnung, oder sie rennt mitten in der Nacht raus, zieht bis zum Morgengrauen durch ihr Viertel und wird selbst zu einer Art Obdachlosen.
Hegemann erzählt von Angst und Einsamkeit
Helene Hegemann erzählt von Angst und Einsamkeit und dem Versuch, in einer Welt der Gegensätze einen Platz zu finden. Dazu gehört auch der titelgebende Striker: ein Graffiti Künstler, seine Runen und Graffiti sind fast überall in Berlin zu sehen. Ganz am Anfang des Romans besprüht er auch die Hausfassade gegenüber von N.’s Wohnung. Sie begegnet ihm nicht, nur einmal sieht sie ihn nachts auf dem Dach eines Hauses stehen. Für diesen Graffitikünstler stand der Berliner Sprüher Paradox Pate, den Hegemann hinten im Buch auch nennt. Für Hegemann einer der "mutigsten, besondersten und radikalsten Künstler der Welt".
Striker zeigt mit seinen Aktionen "Zynismus gegenüber parlamentarischer Politik". Eine Haltung, die N. mit ihm teilt, "nicht obwohl, sondern WEIL sie Sex mit jemandem hat, der ihr aus exakt diesem Parlament ununterbrochen gähnende Emojis zuschickt."
Denn mit einer ihrer Schülerinnen, einer Politikerin, die im Verteidigungsministerium arbeitet, hat sie eine Affäre. Eine Frau, die in ihrer satten Indifferenz gar nicht gut wegkommt. Sie kann zwar "minutiös und druckreif die nächsten Bürgerkriegsszenarien prognostizieren". Aber "fragt man sie fünf Minuten später, wo sie sich in zwanzig Jahren sieht, lautet die Antwort irgendwas Richtung Haus am See oder Meer, vielleicht ein Surfkurs, vielleicht auch ein Hund, obwohl ihr das mit den Haaren wahrscheinlich zu viel sei."
Die Affäre der beiden bleibt kühl. N fährt ab und zu ans andere Ende der Stadt, aber echte Nähe stellt sich nur zu ihrem Kampfsport-Trainer Jürgen ein.
Ein gesellschaftskritischer und abgründiger Berlin-Roman
"Striker" ist ein gesellschaftskritischer Berlin-Roman, den Hegemann mitten aus der Gegenwart der Metropole heraus geschrieben hat. Während N. in Kreuzberg-Friedrichshain lebt, wo vor ihrer Tür die Penner und Junkies ihren täglichen Daseinskampf austragen, lebt die Politikerin in einer Villa in Zehlendorf. Die U3, die von einem Ende zum anderen 48 Minuten braucht, verknüpft dabei buchstäblich die sozialen Gegensätze:
"Zu Beginn ist der Zug brechend voll, Penner knien auf dem Boden und murmeln ihre Sturzgebete. Ab der Hälfte leeren sich allmählich die Waggons, etwas später sind die Irren und die Armen vollständig durch Rentner, Menschen in Anzügen und meditierende Studenten ersetzt."
Doch bei aller Gegensätzlichkeit: Am Ende ist der Schmelz der Zivilisation dünn. In einer der stärksten Szenen sitzt N. mit der Politikerin in einem Restaurant in Zehlendorf, als N. auf einmal "in den goldbehangenen, über die Doraden und Rinderfilets gebeugten Körpern (…) eine exakte Übereinstimmung mit den gebeugten Junkiekörpern in ihrem Viertel" erkennt.
"Striker" ist nicht nur das Porträt einer Großstadt, ihrer Abgründe und Ränder, sondern auch der Menschheit an sich: Helene Hegemann hebt den dünnen zivilisatorischen Schmelz an und schreibt über das, was darunterliegt - und mit Besitz und sozialem Status nichts mehr zu tun hat.
Anne-Dore Krohn, radio3