Bernd Roling, Julia Weitbrecht: Das Einhorn. Geschichte einer Faszination © Hanser Verlag
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Bernd Roling u. Julia Weitbrecht - "Das Einhorn. Geschichte einer Faszination"

Bewertung:

Einhörner sind heute praktisch überall zu finden – meistens in sehr verkitschter Form, in rosa und mit Regenbogen und Sternchen versehen. Doch das Bild, das sich die Menschen schon seit Urzeiten vom Einhorn gemacht haben, war nicht immer so romantisch. Zwei Sprach- und Literaturwissenschaftler haben sich an die Erforschung des Einhorns gewagt, um dem Ursprung dieses Mythos auf den Grund zu gehen. Das Sachbuch "Das Einhorn. Geschichte einer Faszination" ist eine spannende Lektüre für die Sommerferien.

Eines der ikonischsten Einhörner der Popkultur ist wohl "Das letzte Einhorn" aus dem Jahr 1982 – ein melancholisch-schöner Zeichentrick-Klassiker, der den Glauben an Einhörner nicht nur bei Kindern wiederbelebt hat, untermalt mit dem Soundtrack der Band America. Der Titelsong wiederholt immer wieder "I’m alive! I’m alive!". Und quicklebendig geistert dieses Fabelwesen auch bis heute durch unsere Fantasie und Wunschträume, ein anmutiges weißes Wesen, pferdeartig, doch versehen mit zauberhaftem Horn und überirdischer Schönheit. Wobei es inzwischen noch ganz andere Farben und Formen angenommen hat, mit Regenbogenschweif und goldenem Horn, manchmal sogar mit Glitzerflügeln oder wie bei "My Little Pony" ganz in Pink und mit bodenlanger blauer Mähne.

Aufräumen in der wilden Welt der Einhorn-Mythen

Die beiden Autoren, die Altphilologen Julia Weitbrecht und Bernd Roling steigen gleich zu Anfang dieses schmalen, aber lehrreichen Buchs mit diesen heutigen Einhörnern der Popkultur ein und mit einem Zitat aus dem weltberühmten "Harry Potter und der Feuerkelch":

"Oooh, ist es nicht wunderschön?“, flüsterte Lavender Brown. "Wie hat sie es gefangen? Das soll ja so unglaublich schwer sein!" Das Einhorn war so gleißend weiß, dass der Schnee um es herum grau schien. Es stampfte nervös mit seinen goldenen Hufen und warf seinen gehörnten Kopf zurück. "Jungen zurückbleiben!", bellte Professor Raue-Pritsche und ihr ausgestreckter Arm traf Harry hart an der Brust. "Sie ziehen die Hand einer Frau vor, diese Einhörner."

Wer nach der Lektüre des Buches dieses Anfangszitat noch einmal unter die Lupe nimmt, wird es mit völlig anderen Augen lesen, denn das Wissen über sämtliche Mythen und Symbole rund um das Einhorn wird sich vervielfacht haben: Schon in der Antike war das Einhorn schwer zu fangen, ab dem frühen Mittelalter konnten sich nur noch Jungfrauen dem Tier nähern und welche Farbe, Größe und Form das Tier hatte, war völlig unklar. "Das Einhorn. Geschichte einer Faszination" geht zurück bis in die Antike, zu griechischen und arabischen Gelehrten, zu Bibelübersetzern und Weltreisenden, die sich alle ernsthaft mit dem Einhorn beschäftigen, denn fast alle waren bis in die frühe Neuzeit der festen Überzeugung, dass es sich um ein reales Tier handelte und nicht um ein Fabelwesen.

Obskur-sympathisches Huftier mit vielfältigen Eigenschaften

In Indien, so Ktesias, konnte man auf eine erstaunliche Kreatur stoßen, mit dunkelrotem Kopf, blauen Augen und wendiger Körpergestalt, das ein Horn von etwa einer Elle Länge auf der Stirn trug. (…) Das Horn, sein markantestes Kennzeichen, wies eine schwarze Farbe auf, war gemasert und ungewöhnlich scharf. Dazu kamen eine schrille Stimme und eine ungewöhnliche Aggressivität.(…) Seine Einhörner besaßen einen reptilienhaften Kopf und auch einen Kamm, der eher dem Kopfschmuck eines Drachens glich. (…) Al-Damiri präsentiert uns das »Horntier«, (…) als einen Hybrid aus Pferd und Elefant, dessen Horn von solcher Länge war, dass die Tiere bisweilen kaum in der Lage waren, den Kopf anzuheben.

Die beiden Autoren Weitbrecht und Roling kommentieren die farbenfrohe Beschreibung des Einhorns über die Jahrhunderte und Zeiten nüchtern, aber freundlich amüsiert:

All diese Beispiele zeigen, dass die ausbleibende Konfrontation mit echten Einhörnern, also die Abwesenheit von Empirie, dafür sorgen konnte, dass ein Erzähler sich die Freiheit nahm, das obskur-sympathische Huftier mit neuen Eigenschaften aufzurüsten und seiner Spekulationsfreude nachzugeben.

Handfeste und unterhaltsame Fachliteratur zur Einhorn-Forschung

Was wie eine unterhaltsame Erzählung beginnt, wird zu einer handfesten Fachliteratur zur Einhorn-Forschung. Denn anhand des Einhorns lässt sich nicht nur die Geschichte des Fabeltieres selbst, sondern auch die der antiken Zoologie und der mittelalterlichen Medizin erklären. Das Einhorn ist zudem übervoll an religiösen Symboliken. Und die Entzauberung des Einhorns steht zugleich für den Beginn der modernen Wissenschaft, die verzweifelt versuchte zu beweisen, dass es Einhörner nicht gab, vor allem im europäischen Raum. Keine Leichte Aufgabe, denn die europäischen Fürsten hatten viel Geld in ihre kostbaren Einhorn-Hörner investiert, die sie in ihren Kunst- und Wunderkammern präsentierten und denen wundersame Heilkräfte zugesprochen wurden:

Ihren Gipfel erreichte die Recherche direkt vor Ort: Auch der sicher herzlich unbequeme und angeblich vollständig aus Einhörnern gezimmerte Thron des dänischen Regenten Friedrich III., der noch heute auf Schloss Rosenborg steht, war, wie Bartholin zeigen kann, allein aus Narwalstoßzähnen zusammenmontiert worden.

Doch all die nüchterne Forschung hat nicht geholfen: Einhörner sind immer noch unter uns. So wie schon die Nonnen in den Klöstern ihre Räume mit Kissen und Deckchen mit Einhorn-Motiven dekorierten, so sind auch wir heute noch von ihnen umgeben, nicht nur auf T-Shirts oder als Kuscheltiere, unter anderem auch als starkes Symbolbild der queeren Bewegung, die wie das Einhorn nicht in eine Norm passt. Julia Weitbrecht und Bernd Roling schlagen diesen großen Bogen auf fundierte und äußerst unterhaltsame Weise.

Irène Bluche, rbbKultur