Kent Haruf: Das Band, das uns hält © Diogenes
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Roman - Kent Haruf: "Das Band, das uns hält"

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Viele Jahre war der US-amerikanische Schriftsteller Kent Haruf nur ein literarischer Geheimtip. Richtig bekannt wurde der 2014 verstorbene Autor erst posthum mit seinem letzten Roman "Unsere Seelen bei Nacht", der mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen verfilmt wurde und 2017 in die Kinos kam. Danach wollte man - auch hierzulande - endlich mehr wissen über Kent Haruf und seine insgesamt sechs Romane, für deren Erst- und Neuübersetzung der Diogenes Verlag verantwortlich zeichnet. Die Wiederentdeckung der im fiktiven Ort Holt/Colorado angesiedelten Roman-Serie wird jetzt mit "Das Band, das uns hält" abgeschlossen.

Heute gilt Kent Haruf als einer der wichtigsten zeitgenössischer Schriftsteller Amerikas. Zu Lebzeiten erhielt er zwar einige Preise, blieb aber immer ein "Writer´s Writer", ein von Kolleginnen und Kollegen geschätzter Autor, dem die Anerkennung durch das breite Lesepublikum verwehrt wurde.

Chronist der kleinen Leute

Harufs Romane waren von zeitloser Eleganz und konventioneller Erzählkunst. Er suchte nicht den Anschluss an die literarische Moderne, lebte in den kleinen Städten von Colorado, arbeitete auch Lehrer und Uni-Dozent, verstand sich als literarischer Chronist der kleinen Leute, die sich abstrampeln und wehren gegen die Zumutungen des Alltags, aber ihre Träume von einem besseren Leben nicht aufgeben wollen. Seine Romane beleuchten Leben und Alltag der Bewohner der fiktiven Kleinstadt Holt und der Umgebung lebenden Farmer, die in der unendlichen Weite der staubigen Landschaft ihr karges Auskommen haben und sich gegen die Unbilden der Naturgewalten behaupten. Mal erzählt Haruf von einem schwangeren Mädchen, das von Gott und der Welt verlassen wurde und bei zwei kauzigen Bauern Unterschlupf und neuen Lebensmut findet. Mal erzählt er von einer Witwe und einem Witwer, die auf die bigotte Moral ihrer Mitbürger pfeifen und die Nächte zusammen verbringen, um der Einsamkeit zu trotzen und vielleicht noch einmal die späte Liebe zu finden.

Erzähler und Personal wechseln, die privaten Geschichten verdichten sich zu einem Panorama von Menschen und Landschaften, die nicht oft im literarischen Fokus stehen, doch viel über den mentalen Zustand einer ganzen Nation verraten.

Falsche Versprechungen

Im Zentrum der Handlung steht diesmal Edith Goudnough, eine 80-jährige Farmerin, die nach einem Brand auf ihrem Hof mit schweren Verletzungen im Krankenhaus liegt, aber des Mordes an ihrem dementen Bruder Lyman angeklagt werden soll. Wir sind bisher Edith noch nicht begegnet, genauso wie wir den Erzähler noch nicht kennen: Sanders, genannt Sandy Roscoe, Freund und Nachbar der alten Dame. Er kennt Edith von Kindesbeinen an, hat hautnah miterlebt, was sich auf dem Nachbarhof abgespielt hat an Tragödien, er kennt die Gewalt, den Verrat und die Wut, die die Familie Goudnough vergiftet haben.

Sandy weiß, dass Edith bei all dem, was ihr vom gewalttätigen Vater, den sie bis zum Ende seines verpfuschten Lebens gepflegt hat, angetan wurde, er weiß, welche Entbehrungen sie auf sich genommen hat, um ihren unberechenbaren Bruder Lyman zu ertragen, der sich jahrelang aus dem Staub gemacht hat und - kaum wieder zurück auf der Farm - in eine Fantasiewelt versank und lebensuntüchtig dahin dämmerte.

Eigentlich ist Sandy Roscoe ein wortkarger Mann, aber als sensationslüsterne Reporter aus Denver nach Holt kommen, in der Gerüchteküche stochern und Lügen zur Wahrheit umdeuten, bricht er sein Schweigen und erzählt die ganze traurige Geschichte von Edith und warum sie sich selbst und ihren Bruder töten wollte. Um es zu erklären, holt Sandy weit aus, geht zurück bis in die Jahre des beginnenden 20. Jahrhunderts, als Menschen mit falschen Versprechungen ins karge Colorado gelockt wurden - und nichts fanden als Staubwüste und endlose Weite.

Der Roman erzählt davon, wie alles begann in und rund um Holt, das damals nur ein Kaff aus Bretterbuden war. Mit der Lebensgeschichte von Edith kommen wir langsam bis ins Jahr 1977, als Edith dem Elend ein Ende setzen will und Sandy vom maulfaulen Farmer zum wortreichen Erzähler mutiert.

Von Liebe, Freundschaft, Pflichtgefühl und Familienzugehörigkeit

Edith will keine Rettung, sie hat ihr Schicksal angenommen und alle Möglichkeiten zur Flucht ausgeschlagen, sie fühlt sich - nach dem frühen Tod ihrer Mutter - verantwortlich für ihren widerwärtigen Vater und ihren verrückten Bruder.

"Das Band, das uns hält" besteht nicht nur aus Liebe und Freundschaft, sondern auch aus Pflichtgefühl und Familienzugehörigkeit. Also hat sie tapfer ihren Vater ertragen und gepflegt, nachdem ihm bei einem Arbeitsunfall von einer Landmaschine die Finger abgesäbelt wurden und er bei jeder Tätigkeit auf Hilfe angewiesen war. Sie hat ihre Träume auf ihren Bruder Lyman projiziert und ihn hinaus in die Welt geschickt, damit wenigstens er etwas erlebt und zu erzählen hat, wenn er irgendwann wieder heimkommt. Sie hat die Liebesavancen von John Roscoe, ihrem Nachbarn, ausgeschlagen und es allenfalls geduldet, dass er ihr bei der täglichen Arbeit hilft und ihren gewalttätigen Vater in die Schranken weist. Die Freundschaft von Johns Sohn Sandy hat sie stets genossen und den Jungen geliebt, als wäre es ihr eigenes Kind. Auch die Besuche von Sandys kleiner Tochter Rena genießt sie sehr, aber verlassen konnte sie ihren Hof und ihren kranken Bruder nicht: "Das Band, das uns hält" kann auch eine dicke Kette sein, die uns einschnürt und anbindet und dafür sorgt, dass wir uns niemals befreien und woanders das Glück finden können.

Eine berührende Geschichte ohne literarischen Schnickschnack

Es gibt - trotz allem - ein wenig Hoffnung, sie besteht darin, dass es Menschen wie John und Sandy und Rena gibt, die Mitgefühl zeigen und Hilfe anbieten, aber sich nicht aufdrängen, die Geschichte der unglücklichen und unterdrückten Menschen bewahren und weitererzählen und das oft fürchterliche Leben in faszinierende Literatur verwandeln - und mit den einfachen Worten eines Farmers die Lebensgeschichte einer Frau durchschreiten, die zu einer Ikone der Gutmütigkeit und Statue der Nächstenliebe wird.

Im Namen von Kent Haruf berichtet Sandy Roscoe ohne literarischen Schnickschnack und modischen Firlefanz, erzählt ohne Bildungsbeflissenheit eine Geschichte, die uns alle berühren und bewegen sollte, auch wenn es - für niemanden - Frieden und Erlösung geben kann.

Warum der Verlag den ersten Roman, mit dem alles begann, als letzten wiederentdeckt und neu übersetzt hat, ist ein seltsam. Hat aber auch seinen Reiz.

Frank Dietschreit, rbbKultur