Ulrike Sterblich: Drifter © Rowohlt
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Roman - Ulrike Sterblich: "Drifter"

Bewertung:

Die Wirklichkeit gibt es. Es gibt sogar ziemlich viel davon, und sehr viel Komisches. Und doch ist alles, was ist, nur ein winziger Teil dessen, was möglich wäre, was es also nicht gibt oder vielmehr: was nur als Mögliches existiert. Gibt es das Mögliche also doch? Ulrike Sterblich wirbelt in ihrem neuen Roman "Drifter" die Verhältnisse kräftig durcheinander. Sie beweist spielerisch, dass Unmöglich das neue Wirklich ist.

In den Strudel der undurchschaubaren Ereignisse ihrer Romanwelt geraten die beiden Freunde Wenzel und Killer. Sie sind im selben Wohnblock aufgewachsen, dürften inzwischen um die 30 sein. Wenzel betreut die Social Media Plattform eines öffentlich-rechtlichen TV-Senders und muss dort all die Wutbürger beschwichtigen, Killer ist PR-Chef einer großen Firma. Allerdings nicht mehr lange: Nachdem ihn bei einem Gewitter auf der Pferderennbahn ein Blitz trifft, geraten in ihm und um ihn herum die Dinge durcheinander und er ordnet sein Leben neu.

Ein Strudel undurchschaubarer Ereignisse

Damit verändert sich auch die Freundschaft, und Wenzel muss sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Wahre Freundschaft beweist sich ja nicht schon in der Wiederholung der immergleichen Rituale, im gemeinsamen Rumhängen und Biertrinken, sondern darin, Veränderungen anzunehmen und gemeinsam zu neuen Ufern aufzubrechen. Davon handelt dieser funkelnde, geistreiche, phantastische Roman.

Viel rätselhafter als Blitz und Verwirrung ist die Frau im goldenen Kleid, die die beiden Freunde noch vor dem Gewitter in der S-Bahn treffen. Begleitet von einem riesigen, zottigen Hund malt sie das Zeichen eines Blitzes in die Luft, als kenne sie die Zukunft bereits. In der Hand hält sie ein Buch des ominösen Schriftstellers Drifter, das es noch gar nicht gibt und das in keinem Katalog verzeichnet ist. Sie bleibt immer im Hintergrund und ist doch die zentrale Figur des Romans.

Eine an "Tschick" erinnernde Freundschaftsgeschichte

Bald stellt sich heraus, dass es sich um die Influencerin Lodovica Malabene, genannt Vica, handelt, die neben ihren Videos ein weitverzweigtes, börsennotiertes Phantasieunternehmen leitet und bald den Kindheitswohnblock der beiden Freunde in eine Art Traumfabrik verwandelt. Utopia entsteht mitten in der Tristesse. Wenzel versucht ihr Geheimnis auf der Internetplattform "Ministerium für ehrliche Propaganda" zu enträtseln, das den "Höflichen Paparazzi" und der "Zentralen Intelligenz Agentur" nachempfunden ist, zu deren Umfeld auch Ulrike Sterblich als "Supatopcheckerbunny" gehörte. #

Wolfgang Herrndorf, der auch dort agierte, lobte einst Sterblichs Buch über Westberlin, und tatsächlich erinnert "Drifter" im Tonfall und weil es eine Freundschaftsgeschichte ist auch ein bisschen an "Tschick".

Überlagerung der Realität durch Fiktionen

Vicas Name Malabene ist sprechend. Sie ist eine umgewendete Teufelin, ein Trickster, ein weiblicher Joker. Anders als Mephisto ist sie ein Geist, der stets bejaht und so das Böse in Gutes verwandelt. Da sie in ihren Videos Anlagetipps für Börsianer versteckt, wird sie zu einer Talkshow eingeladen, die an Markus Lanz erinnert. Durch ihre bloße Anwesenheit bricht sie dort die Routine, entwendet dem Moderator (sie kann ja zaubern) seine Fragekärtchen, bis der sich, völlig verwirrt, Schuhe und Socken auszieht und die Sendung abgebrochen werden muss. So wird in einer wahnwitzigen Szene der ganze Irrsinn der Medienwelt mit ihrer Produktion von Scheinwirklichkeit sichtbar.

Die Überlagerung der Realität durch Fiktionen ist ein durchgängiges Thema des Romans. Wenzel, der zusammengerechnet schon viele Tage und Stunden mit dem digitalen Kartenspiel FreeCell verbracht hat, macht die Erfahrung, dass nach 244 gewonnen Spielen ein einziges verlorenes Spiel ausreicht, um ihm die Statistik für alle Zeiten zu ruinieren. 100 Prozent gewonnene Spiele wird er nie mehr erreichen. Die Statistik ist wichtiger als die Freude am Spiel, die er erst dann wiederentdeckt, als er zu echten, wirklichen Karten greift, die sich nicht von alleine auf die digitalen Stapel verteilen.

Ein zauberhafter Roman

Die Beziehungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit sind vielfältig, und sie sind unaufdringlich im Text verborgen. Killer ist Spezialist dafür, Comic-Pendants für alle Figuren zu finden und sie so zu charakterisieren. So sieht Heurtebise, Vicas mysteriöser Fahrer und Bediensteter, nicht nur aus wie Mister Burns aus den Simpsons, sondern verweist auch auf den gleichnamigen Fahrer der sinistren Prinzessin in Jean Cocteaus Film "Orpheus".

Das alles geschieht leicht und spielerisch. Alles Schwere wird zum Tanzen gebracht, so wie auch Vicas zottiger Riesenhund in einem Video tanzen kann. Aus Zufall wird Notwendigkeit, aus Beiläufigem die Hauptsache, und aus dem Unmöglichen wird Realität. "Drifter" verbindet Phantasy, Märchenelemente und soziale Wirklichkeit zu einer Art magischem Realismus, der das Unwahrscheinliche glaubhaft macht. Zugleich ist es ein zauberhafter Roman über die Wandlungsfähigkeit einer Freundschaft. Denn die ist das Einzige, was im turbulenten Geschehen überdauert.

Jörg Magenau, rbbKultur