Tess Gunty: Der Kaninchenstall © Kiepenheuer & Witsch
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Roman - Tess Gunty: "Der Kaninchenstall"

Bewertung:

Wenn es der Rust Belt schon in die Literatur schafft, dann bitte in halluzinogenen Neonfarben. Die US-Amerikanerin Tess Gunty ist 30 Jahre alt, und ihr Debütroman ist alles andere als ein Abgesang auf ihre Herkunft. Er ist eine Freakfeier der Absurditäten des Lebens.

Mal ganz ehrlich: Rust Belt und Literatur – das denkt man eher nicht zusammen. Diese Gegend im Mittleren Westen der USA, wo inzwischen nur noch Industrieruinen und vielleicht eine gewisse Vergangenheitssehnsucht – personifiziert im Klischee des trinkenden Trump-Wählers mit Baseball-Cap – daran erinnern, dass es hier auch mal fette Jahre gab.

Jetzt ist da aber die 30-jährige Rust-Beltlerin Tess Gunty, die ihren Debütroman "Der Kaninchenstall" genau über diese Region und ihre Bewohner geschrieben hat. Und prompt erhält sie dafür nicht nur den National Book Award, sondern wird sogar – wie so oft in junger US-amerikanischer Literatur – als neuer David Foster Wallace gefeiert.

Ein Roman voller abgehängter Figuren

Ist es das Sujet – das "America Left Behind", das abgehängte Amerika –, das an sich gleich preisverdächtig macht? Nein, diese Formel wäre viel zu billig. Aber ja, die Romanhandlung ist in Vacca Vale, Indiana, angesiedelt, einer fiktiven heruntergekommenen Stadt mitten im Rust Belt, die im Übrigen der Herkunftsstadt Tess Guntys, South Bend, Indiana, nachempfunden ist. Diese Stadt ist nichts weniger als der Lebenshorizont der unzähligen Figuren, die den Roman bevölkern.

Da ist die Heldin des Romans, die 17-jährige Blandine, eine tragische Figur. Sie ist hochintelligent, hat den Todestrieb aber quasi per Geburt schon in die Wiege gelegt bekommen. Schon in ihren ersten Lebensmonaten musste sie einen Entzug hinter sich bringen, danach wurde sie von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergeschoben, "wie ein Unglück bringendes Erbstück". Später lässt sie sich – in vollem Bewusstsein für das Klischee und für die Machtverhältnisse – auf eine unheilbringende Affäre mit ihrem Theaterlehrer ein.

Dann sind da ihre drei männlichen Mitbewohner, ebenfalls Pflegekinder, die es sich aus Langeweile zum Hobby machen, Tiere zu opfern. Da ist die psychisch kranke Mutter ohne Krankenversicherung, die sich vor den Augen ihres Babys fürchtet und sich dafür fürchterlich schämt. Und dann ist da noch eine einsame 40-Jährige mit "genetischer Anlage zur Unsichtbarkeit", die keine sozialen Kontakte hat außer auf der Arbeit, wo sie Kommentare unter Online-Nachrufen moderiert.

Tess Gunty lässt ihre Figuren tanzen

Ja, diese Figuren sind "left behind", ihre Welt wirkt wie abgeschnitten vom Rest der Welt. Aber: Tess Gunty schnappt sich kurzerhand ihre Figuren und lässt sie einen regelrechten Totentanz aufführen über dem Abgrund der existenziellen Banalität – auf eine Art und Weise, die der Leserin suggeriert: Das Leben spielt nirgendwo anders als hier und jetzt, mitten in der Vorhölle.

Mit Genuss schmückt Tess Gunty ihre Figuren aus, spitzt sie zu, psychologisch wie sprachlich. Eine Figur übertrumpft die nächste in ihrer Freakhaftigkeit. Die Wirkung ist quasi halluzinogen. Was dabei am meisten erstaunt: Die Figuren sind trotzdem unverschämt glaubwürdig.

Die Autorin hat ein Faible für Freaks

Nehmen wir etwa den Mittfünfzigjährigen, der überzeugt ist, zu einer auserwählten Gruppe übermenschlicher Hypersensibler zu gehören, deren Gemeinsamkeit ist, dass ihnen feine, juckende Fasern aus den Poren wachsen. Der Rest der Welt jedoch hat sich gegen ihn verschworen, und deshalb schmiert er sich mit der Flüssigkeit aus Knicklichtern ein, um Leute heimzusuchen, denen er etwas heimzahlen will.

Oder betrachten wir Blandine selbst, die vergeistigte Heldin mit der "ätherischen" Ausstrahlung, die sich in einer anderen Spezies wohler gefühlt hätte und die Hildegard von Bingen, die katholische Mystikerin aus dem 12. Jahrhundert, für ihre beste Freundin hält. Genau wie Hildegard sehnt sich Blandine nach Exstase und Transzendenz und heiligen Qualen.

Und wenn doch eine Figur einmal ganz trostlos und langweilig sein sollte, dann übertrumpft sich Tess Gunty selbst mit ihren Sprachspielen, im Übrigen genial übersetzt von Sophie Zeitz. Allein das ist pures Lesevergnügen.

Spannend und hochkomplex

Aber um über mehr als 400 Seiten zu tragen, muss natürlich mehr in dem Roman stecken als Sprachkunst und Freakparade. Tut es auch. Zunächst einmal gelingt es Gunty, trotz der vielen genüsslichen Abschweifungen einen enormen Spannungsbogen aufzuspannen und zu halten. Ab Seite 1 wissen wir: Hier gibt’s ein Blutbad, Blandine hat es geschafft, ihren Körper zu verlassen. Und die Leserin will natürlich rekonstruieren, was genau passiert ist.

Außerdem ist der Roman hochkomplex. Von Klimaangst über strukturelle Gewalt, MeToo, Startup-Heilsversprechen bis in die abstrusesten Internet-Parallelwelten – das alles steckt da drin und hinterlässt beim Lesen dieses beklemmende Unbehagen, das ja ein Zeichen unserer Zeit ist. "Der Kaninchenstall" ist ein Gesellschaftsroman, und zwar einer, der auch formal eine unheimliche Fülle aufweist: Tess Gunty springt hin und her zwischen Perspektiven, Erzählhaltungen, Formaten … Da ist etwa ein Kapitel, das nur aus Kommentaren unter einem Online-Nachruf besteht – mit all dieser Absurdität der Internetsprache. Da ist sie, die "Realität + x". Einfach grandios.

Auf der Suche nach der verlorenen Seele des Rust Belts

Die Leserin folgt Tess Gunty also wie dem weißen Kaninchen in den "Kaninchenstall". Dieser Titel ergibt sich übrigens aus einem heruntergekommenen Mehrfamiliengebäude namens "Kaninchenstall" mit hauchdünnen Wänden. Dort wohnen die allermeisten Figuren des Romans, in Appartments, die C4 oder C12 heißen. Mit Tess Gunty schwebt man also durch diese hauchdünnen Wände, betritt mal C4, mal C12. Das mag etwas random scheinen, aber: In diesem Roman ist nichts random. Man lebt in dieser orchestralen Gleichzeitigkeit der Erzählstränge und bereitet sich auf das große Finale vor.

Und schließlich tragen all die Auftritte, all die Fragmente, all die Alltagsszenen zu ein und derselben Sache bei: die verlorene Seele der fiktiven Stadt Vacca Vale, Indiana, mitten im Rust Belt aufzuspüren.

Sarah Murrenhoff, rbbKultur